Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Die Poesie der Klasse

Figurationen von Klasse in Literatur und Sozialtheorie des deutschen Vormärz

Dr. Patrick Eiden-Offe

Abstract

Mit dem Abbau ständegesellschaftlicher Ordnungen und der Herausbildung einer Kapital- und Marktwirtschaft geraten im Vormärz auch die überkommenen imaginären Ordnungsmuster des Sozialen ins Rutschen. Mit der „socialen Frage“ stellt sich auch die Frage nach neuen Gesellschaftsbildern, in denen die sozio-ökonomischen Transformationsprozesse überhaupt erst anschaulich und verständlich gemacht werden können. Bevor hier wissenschaftliche Bewältigungsstrategien greifen – etwa mit der Etablierung der Soziologie –, kommen die Literatur und eine neue, literarisierende Form von Soziographie zum Zuge, die mit den epistemischen Turbulenzen der Zeit produktiv umgehen. Diese vielfältigen, oftmals experimentellen und grenzüberschreitenden literarischen Figurationen bilden die gesellschaftlichen Verhältnisse weniger ab, als dass sie mögliche neue Wahrnehmungsweisen einsetzen und prägen. Die Figur der „Klasse“ wird so als imaginäres Ordnungsmuster etabliert und in vielfältigen Verwendungen durchgespielt, bevor der Begriff „Klasse“ definiert und wissenschaftlich normiert werden kann.

Die Great Transformation, die oft mit der Abbreviatur „Übergang von der Stände- zur Klassengesellschaft“ gefasst wird, stellt sich näher besehen als komplexer Prozess radikaler Desintegration dar. Literatur und Sozialtheorie der 1820er bis 40er Jahre verzeichnen die sozialen Verwerfungen, die mit diesem Prozess einhergehen, sie spüren aber auch den Irritationen nach, die bis ins Kapillarsystem kultureller Selbstverständigung hinein zu registrieren sind. Für die Autorinnen und Autoren der Zeit wird deutlich, dass an die Stelle alter Ordnungsmuster keine neuen treten, die gleicher Natur wie die alten wären: Der Zustand der Auflösung ist die neue Ordnung; das soziale Band ist zerrissen, soziale Integration vollzieht sich nur noch negativ: in der „Anarchie der Konkurrenz“, schließlich im „Klassenkampf“. Es gibt keine Gesellschaft, so erkennen die Autoren des Vormärz, die vor dem Streit positiv gegeben wäre; die Spaltung, der Kampf der Klassen konstituiert allererst die Gesellschaft, auf die man sich daher auch nie unproblematisch berufen kann.
In dieser Situation wird es umso dringlicher, aber auch prekärer, funktionierende und anschauliche Bilder des Sozialen zu finden. Die Autorinnen und Autoren der Zeit arbeiten sich an der Aufgabe ab, die reale Vielförmigkeit und Heterogenität des Sozialen aufzuzeichnen und diesem dabei doch imaginäre Einheiten abzugewinnen, die nicht selten am Ende auch politisch ins Werk gesetzt werden sollen. Zur Bewältigung dieser paradoxen Aufgabe, die ich als „Poesie der Klasse“ bezeichnen möchte, wird im Vormärz der gesamte  Formenreichtum und die Virtuosität der avancierten Künste aufgeboten; in der konsequenten Nutzung aller neuen Möglichkeiten der medialen Revolution der Zeit werden dabei nicht zuletzt auch die Grenzen von Kunst und Literatur selbst überschritten. Die „Poesie der Klasse“ tritt ins Leben der Gesellschaft ein und wird dieses bis weit ins 20. Jahrhundert prägen; ob wir heute die „Poesie der Klasse“ endgültig hinter uns gelassen haben, wie am Ende des 20. Jahrhundert allerorten verkündet worden ist, wird aufs Neue zu fragen bleiben.

Dass „Klasse“ nicht einfach da ist, sondern kulturell, politisch und wissenschaftlich geschaffen und geformt werden muss – The making of... –, dass dem sozio-ökonomischen Tatbestand der Klasse also eine poetische Dimension eignet, hat sich als Methodenproblem auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Klasse niedergeschlagen: In Deutschland wurde die Untersuchung von Klassenfragen lange von einer strukturorientierten Sozialgeschichte monopolisiert, für die „Kultur“ weithin nur Ausgestaltung anderwärts schon konstituierter Klassenverhältnisse sein konnte. Die Poesie der Klasse mobilisiert dagegen andere Traditionen der Sozial-, Literatur- und Kulturgeschichte, in denen nicht bloß materielle „Basis“-Prozesse der Klassenbildung berücksichtigt werden, sondern auch die Geschichte der „Identifizierungsmittel“, der kulturellen Wahrnehmungs- und Darstellungsformen, vermittels derer Klassenfigurationen sich historisch bilden und wieder auflösen. Zu denken wäre hier an die französische, vielfach ethnologisch und psychoanalytisch inspirierte Tradition von Theorien des politischen Imaginären (Castoriadis, Rancière), an die englische Tradition des Cultural Materialism (Williams) und der kulturellen Sozialgeschichte (Thompson, Hobsbawm) und an neuere Ansätze einer Global Labor History (Linebaugh, Rediker). In einem solcherart abgesteckten Rahmen (der nicht von ungefähr an den vormärzlichen Topos einer „europäischen Triarchie“ von englischer Politischer Ökonomie, französischer Politik und deutscher Philosophie angelehnt ist) findet dann auch die ältere deutsche Tradition einer Literatursoziologie wieder ihren Ort, so wie sie von Leo Löwenthal oder Georg Lukács begründet worden ist.