Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Die Widersprüche der Anthroponomie

Die Autonomisierung des politischen Raumes und das religiöse Feld in der griechischen Kultur

Prof. Dr. Egon Flaig

Abstract

Es geht darum, jene Bedingungen zu ermitteln, die es ermöglichten, dass es zur Emergenz und zur Geschichte des Republikanismus kommen konnte, also einer kulturell spezifischen Weise, eine Gemeinschaft zu organisieren erstens auf der Grundlage einer besonderen politischen Zugehörigkeit (Bürgerrecht), zweitens im Modus einer variantenreichen Partizipation. Mein Anliegen erstreckt sich auf zwei thematische Gegenstände:

  1. Wie konnte es zur Konstitution eines autonomisierten Raumes des Politischen kommen?
  2. Wieso konnte das kollektive menschliche Verfügen über die Ordnung (Anthroponomie) ein Ausmaß annehmen, das seit dem Ende des 5. Jhs. als beängstigend erfahren wurde?
  3. Wie lassen sich die unterschiedlichen Modalitäten der Verzahnung von Religion und politischer Macht kategorial erfassen?
  4. Welche Rolle spielte dabei die frühe Ausdifferenzierung von Verfahren insbesondere von Entscheidungsverfahren (Mehrheitsregel)?
  5. Wieso meldete sich im politischen Denken sehr früh - nämlich schon in der 2. Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. – die Sorge, dass diese Anthroponomie zu weit gehe, dem Zusammenleben gefährlich werde, ja sogar die moralischen Grundlagen der Gemeinschaft ruiniere? Warum wird das unablässige Verfügen der Volksversammlungen über die innere Ordnung zu einem obsessiven Angstbild in der entstehenden politischen Theorie? Wie begründet ist diese besinnungslose Furcht, es könnte das permanente Setzen von neuen Normen die Geltung der Normen überhaupt unterminieren? Wie reagiert die Polis auf diese diskursiv verbreitete Befürchtung? Und welche Relevanz haben diese Reaktionen für den Republikanismus überhaupt?

Mein Ausgangspunkt ist die erstaunlich frühe Selbsermächtigung griechischer Kollektive, ihre eigene politische Ordnung durch kollektive Gesetzgebung zu regeln. Momentan verstärkt sich erneut der Trend, das Politische und die Rechtssetzung in antiken Kulturen über den Kamm ‚Religion, religiös implementierte Rituale’ zu scheren. Die Ethnologisierung der antiken Kulturen hat zu einem anhaltenden forscherlichen Interesse an der Pervasivität des Religiösen in den unterschiedlichsten kulturellen Feldern der klassischen antiken Gesellschaften geführt. Ein unverminderter Strom an Publikationen beschäftigt sich mit der sakral-rituellen Dimension der Politik. Dabei wird leider das ‚Inventar der Differenzen’ ärmer, vor allem in der anglophonen Forschung. Tendenziell verwischen sich die Unterschiede zwischen kulturell unterschiedlichen Graden religiöser Intensität in politischen Vorgängen. Wir erleben einen partiellen Rückfall hinter den erreichten Stand von kategorialer Differenzierung. Es ist daher eine neue Theoretisierung des Themas vonnöten.

K.-J. Hölkeskamp hat entdeckt, dass eine ständige Flut von städtischer Gesetzgebung spätestens in der Mitte des 7. Jhs. v. Chr. einsetzte. Dieses Phänomen macht erklärlich, wieso die griechische Kultur spätestens seit dem 5. Jh. ergriffen wird von einer Frenesie, alles Erdenkliche durch Verfahren zu regeln. Dieser frenetische Gebrauch von Verfahren und deren Vervielfältigung ist einmalig und weder von anderen Kulturen noch von den Nachfolgekulturen im europäischen Raum jemals wieder erreicht worden. Diese Tatsache widerspricht dem Luhmannschen Vorurteil, es sei ein Privileg der ‚Moderne’, ihre Legitimität aus der Anwendung von Verfahren zu schöpfen. Das Makronarrativ der Systemtheorie läßt sich von hier aus korrigieren oder auch bereichern.

Zuvorderst ist eine genauere Typologie vonnöten. Die möglichen Varianten der Involvierung des Religiösem in die sozialen und politischen Sphären sind zu sortieren nach Stärke und Modalitäten: Am einen Ende der Skala befände sich ein ständiges göttliches Regieren (radikale Theokratie); am anderen Ende der Skala läge die radikale Anthroponomie griechischen Typs; dazwischen wären viele Varianten zu verzeichnen, so die Stiftung der menschlichen Ordnung durch göttliche Gesetzgebung (Theonomie), dann die Stützung der menschlichen Ordnung durch göttlichen Beistand usw. Die beiden religionssoziologischen Auffälligkeiten - Abwesenheit eines organisierten Priestertums und Fehlen einer systematisierten Theologie - sind in der Forschung oft erörtert worden. Es gilt jedoch, beide zu verzahnen. Das würde erlauben, auf der konzeptionellen Ebene plausible Erklärungen dafür zu liefern, wieso eine Religion zwar eine hohe kulturelle Präsenz und Wirkmächtigkeit besitzt, aber – als theologisch nicht systematisierbare - in sich unfähig bleibt, ordnungsstiftende Impulse abzugeben.

Der zweite Aspekt meines Vorhabens hängt mit dem ersten zusammen. In den modernen parlamentarischen Demokratien taucht periodisch die Besorgtheit auf, dass rechtliche Normen ihre Geltung verlieren, falls sie zu häufig verändert werden. Diese Sorge wird akut bei verfassungsrelevanten Angelegenheiten, ob nämlich ein Strudel unaufhörlicher Verfügung über die politische und auch soziale Ordnung die Verbindlichkeiten letztlich auflösen. Diese Furcht hat sich in der klassischen Ära der griechischen Kultur in einer ganzen Reihe von Texten niedergeschlagen und sich dort in einer kaum wieder erreichten Schärfe geäußert. Die Aporien einer ungebremsten Souveränität, über die eigene Ordnung per Mehrheitsbeschluß zu verfügen, zeigten sich wiederholt und bisweilen dramatisch. Es gilt, die Reflexion über diese Selbstaufhebung der Souveränität in den erhaltenen Texten nachzuzeichnen und alle betreffenden Diskursvarianten aufeinander zu beziehen.