Die ‚kakanische‘ Bürokratisierung von Affekt und Emotion
Abstract
Mit Schwerpunkt auf der jüngeren Verwaltungs- und Literaturgeschichte Habsburgs bzw. Österreichs soll das Verhältnis zwischen der klassisch ‚rationalisierten‘ Bürokratie und ihrem vermeintlich Anderen, den Affekten und Emotionen, untersucht werden. Die Ausgangshypothese lautet, ‚Rationalisierung‘ sei die Leitmaxime postrevolutionärer Reformanstrengungen und damit einer bewussten Abkehr von affekt- und emotionspsychologischen Befunden gewesen, die dann allerdings im 20. Jahrhundert durch den Einfluss US-amerikanischer ‚Managementkulturen‘ auf den öffentlichen Sektor gründlich revidiert wurde.
Vor diesem Hintergrund soll das Projekt die Diskursgeschichte von Affekten und Emotionen im 19. und 20. Jahrhundert unter dem Vorzeichen aufarbeiten, dass sie nicht nur das Andere oder die Schranke von ‚Rationalisierung‘ darstellen, sondern diese immer schon durchkreuzen und prägen. Im selben Zuge wäre zu untersuchen, inwiefern literarische Beobachtungen die beiden scheinbar distinkten Diskursbereiche zu Konstellationen bürokratischer und bürokratisierter Affekte und Emotionen zusammenführen. Literarische Texte sind dabei nicht nur daraufhin zu befragen, inwiefern sich in ihnen die Produktivität und Effizienz amtlicher Schreibverfahren reflektiert oder etwa die Bürokratie zur Allegorie poetischer Schreibprozesse wird. Literarisches Schreiben soll hier auch als der Versuch gelten, über das bürokratietheoretisch ausgeschlossene, aber in der modernen Ästhetik und Poetik zentrale Moment der Empfindungen, Affekte und Gefühle zu einer anderen Anthropologie dieser Herrschaftsform zu kommen.
Zeitlich, geographisch und sachlich soll das Projekt auf die moderne Bürokratie Habsburgs bzw. Österreichs begrenzt werden. Diese ist nicht nur ob ihrer unverhältnismäßigen Ausmaße immer wieder zum literarischen Thema geworden. Als das Habsburgerreich im 18. Jahrhundert an seiner südöstlichen Flanke bis tief in den Balkan reichte, schien an dieser Grenze die aufgeklärte Rationalität Mitteleuropas auf eine archaische Mentalität zu treffen. Die Konfrontation einer zentraleuropäischen Verwaltungsmacht mit vermeintlich ‚charismatischen‘ Herrschaftsgebilden ließ zahlreiche Schreckensszenarien im kollektiven und literarischen Imaginären entstehen, ehe die policeyliche Ordnungsmacht der theresianischen Verwaltungsreform endemische Figuren wie die des Vampirs rasch zum Verschwinden brachte.
Als ‚Bürokratie‘ bezeichnete man in Habsburg nicht nur den Verwaltungsapparat, sondern ebenso jenen Stand, der sich durch seinen Habitus und Amtsgeist, durch sein Pflicht- und Autoritätsbewusstsein als eine Art Herrschaftsadel zur Ausübung von Hoheitsrechten betrachtete, um eine gewisse Kontinuität zwischen Feudalismus, aufgeklärtem Absolutismus und moderner Staatlichkeit zu gewährleisten. Zwischen der habsburgischen Bürokratie und Literatur bestand seit der Renaissance eine enge – personelle und sachliche – Allianz, und gerade nach der 1780 angestoßenen josephinischen Bürokratiereform, die über den Umweg akademischer Ausbildung dem Bürgertum einen Aufstieg auf breiter Basis ermöglicht hatte, waren fast alle etablierten Schriftsteller auch Bürokraten – und umgekehrt zahllose Bürokraten literarisch ambitioniert.
Doch hat die literarische Aufmerksamkeit für bürokratische Phänomene auch weitergehende politische Gründe: In Habsburg gab es, anders als im postrevolutionären Frankreich, kein – republikanisch motiviertes – kollektives Nationalbewusstsein, und weil es hier auch niemals zu einer wirklichen Staatswerdung im Sinne des 19. Jahrhunderts kam, sondern der Reichszusammenhang eher durch die Verwaltung von Staatsbürgern (die noch dazu mehrheitlich keine Österreicher, geschweige denn ‚citoyens‘ waren) besorgt werden musste, fiel der Bürokratie die Rolle zu, einen Ausgleich für die Machtdefizite des Herrschergeschlechts zu schaffen.
Die spätere literarische ‚Verklärung‘ des althabsburgischen Verwaltungsapparats mitsamt seiner stockenden Mechanik, seiner Anfälligkeit für Korruption und seiner persönlichen Idiosynkrasien könnte aus der administrativ-poetischen Allianz ebenso erklärbar sein wie aus der affektiven oder emotionalen Bindung an das bürokratische Surrogat für die staatliche und nationale Einheit. Doch wäre die Spezifik der ‚habsburgischen Verwaltungskultur‘ auch durch systeminterne Dynamiken zu beschreiben. So sollte der extensive Ausbau der Bürokratie zwischen 1780 und 1848 ein größeres Maß an Rechtssicherheit auf Seiten der Untertanen garantieren, unterwarf aber im selben Zuge die bürgerlich-akademischen Beamten und ihre ‚Conduite‘ einer strikten Kontrolle; dies mag für die ‚autopoietische‘ Potenzierung der Aktenproduktion und damit des Arbeitsaufkommens ebenso ein Grund sein wie für die charakteristische Doppelexistenz des habsburgischen Bürokraten: einerseits gehorsame, loyale und autoritäre Amtsperson, andererseits privat ‚räsonnierende‘ und liberal ‚enthusiasmierte‘ Privatperson.