Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Ethische Dimensionen des Nichtwissens

Vertrauen und Anerkennung als Beispiele

PD Dr. Peter Wehling

Abstract

Das Vorhaben untersucht aus einer nicht-funktionalistischen soziologisch-gesellschaftstheoretischen Perspektive die ethisch-politischen Dimensionen sozialer Praktiken des Nichtwissens anhand der beiden Beispiele Vertrauen und Anerkennen. Daraus sollen weiterführende Schlussfolgerungen für ein reflektiertes Verständnis der Bedeutung von Nichtwissen für soziale Ordnung und Inklusion gezogen werden.

Das Arbeitsvorhaben beschäftigt sich mit den ethisch-politischen Aspekten und Dimensionen von sozialen Praktiken des Nichtwissens. Das Interesse richtet sich anhand der Beispiele Vertrauen und Anerkennen auf solche Formen und Praktiken des Nichtwissens, die – über eine rein funktionale Bedeutung für die Stabilisierung sozialer Ordnung hinaus –  eine ethische und politische Dimension aufweisen, die geeignet ist, (wissensbasierte) soziale Ordnungen in Frage zu stellen.

Das Ziel des Vorhabens ist es gleichwohl nicht, selbst eine normative „Ethik des Nichtwissens“ zu begründen; vielmehr soll die sozial- und gesellschaftstheoretische Relevanz von Nichtwissen jenseits funktionalistischer Auffassungen sichtbar gemacht werden. Dies wird exemplarisch im Blick auf zwei zentrale Themen der gegenwärtigen gesellschaftstheoretischen und sozialphilosophischen Diskussion untersucht: Vertrauen und Anerkennen. Beide sozialen Praktiken zeichnen sich durch einen konstitutiven Bezug auf Wissen und Nichtwissen aus, aber in beiden Fällen, so die Ausgangsthese des Vorhabens, sind die analytischen wie normativen Implikationen der Bezüge zum Nichtwissen und damit auch die Bedeutung von Vertrauen und Anerkennen für ein reflektiertes Verständnis sozialer Ordnung und „gelingender“ gesellschaftlicher Integration noch nicht hinreichend geklärt.

Dass Vertrauen als soziales Phänomen konstitutiv auf Nichtwissen bezogen ist, hat bereits Georg Simmel in seiner Soziologie (1908) festgehalten, worin er Vertrauen als einen „mittleren Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen“ charakterisierte. Doch ebenfalls schon bei Simmel deutet sich eine funktionalistische und rationalistische Verengung von Vertrauen an, die sich in späteren soziologischen Thematisierungen noch deutlicher zeigen sollte. Vertrauen wird hierbei als eine Art Kompensation für das unvermeidbare Nichtwissen über das zukünftige Handeln des Anderen und über eine prinzipiell unbekannte Zukunft gerückt; es erscheint als eine zwar selbst riskante, aber dennoch häufig durchaus erfolgreiche Strategie der Risiko- und Unsicherheitsbewältigung. Mit dieser Auffassung wird jedoch der Charakter von Vertrauen als einer wechselseitigen sozialen Beziehung schon deshalb verfehlt, weil danach letztlich nur die Person oder Gruppe, in die Vertrauen „investiert“ wird, dieses enttäuschen kann.

In dem Vorhaben sollen neuere Überlegungen aus der sozialen Epistemologie und feministischen Wissenschaftsphilosophie als Ausgangspunkt genommen werden, um die Beziehungen zwischen Vertrauen, Wissen und Nichtwissen neu zu bedenken und über eine einseitige, instrumentelle Konzeption von Vertrauen als Ersatz für vollständiges Wissen hinauszugelangen. Vertrauen, so die Vermutung, ist nicht nur eine Möglichkeit, mit unvermeidbarem Nichtwissen umzugehen, sondern als spezifische wechselseitige soziale Beziehung selbst der Grund für einen bewussten Verzicht auf Wissen über die Handlungen derjenigen, denen man vertraut.

Auch Anerkennungsbeziehungen sind in mehrfacher Hinsicht mit Fragen von Wissen und Nichtwissen verknüpft, die seit Längerem vor allem im Hinblick auf das Verhältnis von „Erkennen“ und „Anerkennen“ diskutiert werden. Zwar ist inzwischen kaum noch grundsätzlich strittig, dass Anerkennen nicht primär eine epistemische, auf Erkenntnis zielende oder darauf basierende Praxis darstellt. Anerkennung geht nicht aus dem vermeintlich „wahren“ Wissen über die Anderen hervor, diese bleiben einem rein erkennenden Zugriff vielmehr entzogen. Anerkennen ist stattdessen als eine Form des praktischen Verhaltens gegenüber Anderen zu begreifen Damit stellt sich jedoch die Frage, inwieweit Gesellschaften über spezifische Praktiken verfügen, in denen das für Anerkennen konstitutive Moment des Nichtwissens, der Nicht-Identifizierbarkeit der Anderen, sei es performativ oder reflexiv, zur Geltung gebracht wird.

Das Ziel des Vorhabens ist es dementsprechend, neben der theoretischen Untersuchung der Beziehungen zwischen Anerkennen, Wissen/Erkennen und Nichtwissen solche sozialen Praktiken und Auseinandersetzungen in den Blick zu nehmen, in denen das Nichtwissen um die Anderen sowie die Unangemessenheit einer erkennenden, identifizierenden Haltung ihnen gegenüber zum Ausdruck und/oder zur Sprache gebracht wird.

Die Analyse der beiden Beispiele dient sowohl dazu, ein erweitertes Verständnis der sozialen sowie sozial- und gesellschaftstheoretischen Bedeutung von Nichtwissen zu entwickeln als auch zu einer differenzierteren Auffassung von Formen und Prozessen der sozialen Inklusion und Interaktion jenseits einer instrumentellen Verkürzung von Vertrauen sowie jenseits der Einordnung der Anderen, „Fremden“ in vorgegebene Kategoriensysteme und Wissensordnungen beizutragen.