Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Luccheser Syndikatsprozesse als Verfahren der Herrschaftskontrolle

Ein Beispiel für die Bürokratisierung von Herrschaft in einer spätmittelalterlichen Kommune

Prof. Dr. Susanne Lepsius

Der Syndikatsprozess gehörte zur Herrschaftspraxis der oberitalienischen Kommunen des Spätmittelalters. In ihm sollten die gewählten Amtsträger (besonders der Podestà) nach Ablauf ihrer befristeten Amtszeiten Rechenschaft über ihre Tätigkeit ablegen. Das Vorhaben untersucht, wie die herrschaftsbegrenzenden Funktionen dieser Prozesse von der Bevölkerung ausgeübt wurden.

Ältere Untersuchungen zur Bedeutung des Syndikatsprozesses in den spätmittelalterlichen italienischen Städten betonen den rechtsstaatlichen, freiheitssichernden Aspekt durch Herrschaftskontrolle dieser speziellen Verfahrensart und betonen den Zusammenhang mit der republikanischen Stadtverfassung. Zumeist werden einzelne Prozesse, zumeist gegen den Podestà als dem obersten städtischen Rechtsprechungs- und Exekutivorgan, herangezogen, ohne auf eine Verankerung der untersuchten Prozesse in den normativen Strukturen der Stadtstatuten oder des gelehrten Rechts einzugehen. Es liegen Untersuchungen zu Genua, Bologna, Siena und Florenz vor.

Die neueste Untersuchung von Isenmann, ausgehend vom Syndikatsprozess im Florenz der Medici, betont dagegen den politischen Charakter dieser Gerichtsverfahren. Aufgrund der jährlich bzw. halbjährlich ad hoc zusammengestellten Kommissionen aus der Bürgerschaft, die die Amtsführung des Podestà nachträglich kontrollieren sollten, wie auch aufgrund von zahlreichen Ausnahmen und Befreiungen für einzelne Herrschaftsträger schon bei ihrer Ernennung von einer Kontrolle im Syndikatsverfahren, seien diese nicht effektiv gewesen. Den von Isenmann historisch vergleichend (sein Kontrastfeld ist das monarchische Kastilien) untersuchten Verfahren zur Herrschaftskontrolle gemeinsam ist die Regelmäßigkeit, mit der sie durchgeführt wurden. Ein entgegengesetztes Modell der Kontrolle von Amtsverfehlungen durch gerichtliche Verfahren stellen die im Bereich der Kirche seit dem 13. Jahrhundert durchgeführten Inquisitionsprozesse gegen Bischöfe dar (dazu. J. Théry). Bei den untersuchenden Richtern handelte es sich durchweg um päpstliche delegierte Richter, die erst eingesetzt wurden, wenn besonders schwerwiegende Verfehlungen an das Ohr des Papstes gedrungen waren. Überdies wurden in diesen Verfahren nicht nur reine Amtsverfehlungen untersucht und gegebenenfalls sanktioniert, sondern ebenso Verbrechen, die die persönliche Lebensführung betrafen. In diesen Prozessen wurde somit die mühsam etablierte Trennung von Amt und Person in Frage gestellt oder gar eingerissen. Sowohl im Hinblick auf die untersuchten Verbrechen wie auch die institutionelle Verfahrensart handelte es sich damit um Sonderverfahren.

Von beiden Typen der spätmittelalterlichen Herrschaftskontrolle unterscheiden sich die Syndikatsprozesse, die ich anhand der Luccheser Aktenüberlieferung untersuchen möchte. Institutionell handelte es sich beim Syndikatsrichter, der zugleich der oberste Appellationsrichter war, in Lucca um einen professionellen Richter mit universitärer juristischer Ausbildung, der ein städtisches Daueramt bekleidete und nicht ad hoc eingesetzt wurde. Wie der Podestà war er von den städtischen Ratsgremien auf Zeit, meist auf sechs Monate gewählt und seinerseits nach Ablauf seiner Amtszeit seinem Nachfolger in einem Syndikatsprozess rechenschaftspflichtig. Er entsprach somit dem Modell eines republikanischen Wahlamtes. Anhand der erhaltenen und bislang ausgewerteten Prozessakten ergibt sich, dass die von ihm durchgeführten Verfahren nicht als Krisenphänomene oder als „politische“ Prozesse gedeutet werden können. Vielmehr handelte es sich um Routineuntersuchungen, die im Wege von Generalinquisition und Spezialinquisition regelmäßig zu Beginn der Amtszeit des jeweiligen Syndikatsrichters durchgeführt wurden und sich nicht nur auf eine Untersuchung der kommunalen Spitzenämter beschränkte, sondern auch niedere Amtstätigkeiten bis hin zu Hilfsfunktionen, etwa Landvermessern, Gerichts- und Ratsschreibern, erfassten. Anhand der Syndikatsakten bietet sich die große Chance, die tatsächlichen Verwaltungsstrukturen einschließlich der Personen, die diese Ämter bekleideten, in einem mittelgroßen italienischen Gemeinwesen des 14. Jahrhunderts zu erfassen.

Da der Syndikatsrichter in Lucca kontinuierlich tätig war, konnte er neben den oben genannten großen Strafverfahren zu Beginn seiner Amtszeit sowohl routinemäßig die korrekte Verwaltungstätigkeit aller öffentlichen Ämter überprüfen, etwa ob die Amtspersonen in der Stadt und dem Luccheser Territorium überhaupt ordnungsgemäß ihre Amtstätigkeit täglich aufnahmen, wie auch jederzeit von Bürgern um Beistand ersucht werden, wenn ihnen eine Verletzung in eigenen Rechten durch einen Amtmann drohte (mittels der querela gravaminis inferendi bzw. illati). Gerade die letztgenannten Verfahrensarten erweisen die Syndikatsprozesse in Lucca nicht nur als Instrumente einer Herrschaftskontrolle von oben, sondern werden erweisen, wie stark diese Möglichkeit durch die Bevölkerung genutzt wurde, um aktiv gegen Amtspflichtverletzungen vorzugehen.

Die anhängig gemachten und geahndeten Amtspflichtverletzungen gingen dabei deutlich über die klassischen Amtsdelikte Korruption, Untreue, Unterschlagung hinaus. So konnten auch unerlaubtes Fernbleiben vom Amt, Einschüchterung, Erpressung, Amtsanmaßung, nicht korrekte Aktenführung sanktioniert werden.