Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Agon und Theater

(mit einem Schwerpunkt: Flucht und Szene)

Prof. Dr. Bettine Menke

„Agon”, ein kulturtheoretischer Begriff vor allem des ausgehenden 19. und des Be­gin­n des 20 Jahrhunderts, wird als Modus des öffentlichen Auftritt betrachtet. Der Wettkampf, der die griechischen Polis zum Zeugen hat, hat eine Funktion sozialer Integration. Untersucht werden soll die Relation von Agon und Theater, das an den kulturellen Agonen der Antike teil hatte, und zwar hinsichtlich des strukturellen, von Nietzsche angezeigten Zu­sam­menhangs des Rede-Agon mit Gerichtsprozess und Tragödie.

Weiter ist im Anschluss an die aitiologischen Fiktionen Rangs u. Benjamins zum Verhältnis von Agon und Theater die Szene als Zwischen-Raum (für den Fliehenden) und das theatrale Geschehen als im Aufschub ermöglichte Verhandlung unter den Augen der Zuschauer aufzufassen. Daran schließt der Fragehorizont „Flucht und Szene“ an, der bis zur Gegenwart zu untersuchen ist.

„Agon“ wurde als kulturtheoretischer Begriff in Ansätzen des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts ins Spiel gebracht. Agon ist wörtlich abzuleiten von der öffentlichen Versammlung (der Agora) und ist eine Form des öffent­li­chen Auftritts. Insofern sollen mit „Agon“ Fragestellungen der „Poetiken des Auftritts“ fortgesetzt werden. Er hat als Wettkampf, der die griechische Polis zum Zeugen hat, eine Funktion sozialer Integration. Nach Burck­hardt und mit Nietzsche wird der politische Interaktionsraum der Polis als Schau­platz des Agon modelliert, und umgekehrt sind ‚Auftritte als konstituierende Elemente demokratischer Öffentlichkeit’ zu erläutern (H. Arendt). Diese Funktion des Agon ist vor allem Nietzsche zufolge dadurch zu bestimmen, dass es nicht einen absoluten ‚Ersten’ gibt, sondern ein jeweils Besserer im Wett­streit sich zeigt.

Der Agon ist angewie­sen auf die Zuschauer, auf die öffentliche Versammlung; das wird von Burck­hardt und Nietzsche (eher am Rande) thematisiert; das verweist aber auf die Relation von Agon und Theater, die sich nicht darin erschöpft, dass in der griechischen Antike das Theater an den kultu­rel­len Agonen teilhatte. Den strukturellen Zusammenhang zeigen vor allem Formulierungen Nietzsches an: Der Agon ermöglicht und erfordert, dass ‚die gegensätzlichen Kräfte hervortreten’. Sie erfordern ein Urteil, dem sie sich zugleich stellen. Nietzsches Formel vom „Kampf vor einem Tribunal“, hält den Agon überhaupt, den Gerichts-Prozess und die Tragödie zusammen. Im Agon, der der Prozess ist, wird jene ‚eigene Position‘ exponiert, die in die­sem erst und jeweils sich herausbildet, indem sie hervortritt. Es soll gefragt werden, wie der ‚Dialog’ im Theater vom Agon her auf­zu­fas­sen ist.

Des weiteren soll das Verhältnis von Agon und Theater im Anschluss an die aitiologischen Fiktionen von F.C. Rang und W. Ben­jamin betrachtet werden. Dadurch wird die theatrale Anordnung von Szene, Zu- und Abgängen und Zuschauern in den Blick genommen. Das Theater als Form des Entkommens aus dem dromos realisiere, so Rang, den „Sinn des griechischen Agon“. Demnach wäre die Szene als der Zwi­schen-Raum (an dem der Lauf des Fliehenden unterbrochen wird) und das theatrale Geschehen als im Aufschub ermöglichte Verhandlung unter den Augen der Zuschauer aufzufassen. Vor allem C. Vismann hat daran angeschlossen, und den Aufschub des göttlichen Urteilspruchs, der stets schon verhängt ist, herausgestellt, als der die das Verfahren der Tragödie statthat. Die Tragödie gibt, so C. Vismann, gegen den gött­li­chen Spruch, der schon gefallen ist, der Kontingenz, dem menschlichen Urteilen hier und jetzt (Spiel-)Raum.

Wenn derart der Ort der theatraler Exposition als provisorischer temporärer „Ort“ im Innehalten auf der Flucht zu denken ist, dann kann gerade dies über das Theater der Antike hinaus, mit historisch unterscheidenden Einsätzen – bis zur Gegenwart untersucht werden. Aktuell soll der Zusammenhang von „Flucht und Szene“ fokussiert werden. Die Beobachtung der Relation von Flucht und Innehalten, von flüchtend und „in Szene“ gesetzt soll, an die genannten Entwürfe zu „Agon und Theater“ anknüpfend in Perspektive der Poetiken des Auftritts erfolgen. Denn diese modellieren eine doppelte: physische und symbolische Relation von Bewe­gungen und Schauplatz. Die Flucht ist zunächst ein eher irre­gu­lärer Modus des Einzugs auf den Schauplatz; sie kann aber auch als Hikesie rituell gefasst sein. Aktuelle Theaterarbeiten, die aus naheliegenden Gründen das Theater dem Thema Flucht und den Fliehenden selbst öffnen, knüpfen daran an. Arbeiten wie E. Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ (2013) adressieren das Theater selbst in seiner Funktion als Szene für die fliehend Ankommenden.

Mit ihrer Bearbeitung der Tra­gödie „Hiketiden“, „Die Schutzflehenden“ von Aischylos erinnert sie an das Theater als den proviso­ri­schen Raum für Fliehende. Der fliehende Zugang ist auf eine An­kunft an­gelegt, die und deren Bedingungen zum einen im dramatischen Geschehen verhandelt wird, die zum andern über die zeit­liche Erstreckung des thea­tralen Ge­sche­hens hinweg aufgeschoben ist.

Die Relation von Flucht und Innehalten soll auch hinsichtlicht der Relation von Auf- und Abtritt und Szene weiterverfolgt werden, eine Bemerkung Benjamins zum Anhaltspunkt nehmend: „Immer wieder, bei Shakespeare, bei Calderon füllen Kämpfe den letzten Akt und Könige, Prinzen, Knap­pen und Gefolge ‚treten fliehend auf‘. Der Augenblick, da sie Zuschauern sichtbar werden, lässt sie einhalten.“ Von der Bewegung her gedacht, die auf der Szene zum Einhalt kommt, ist die Szene als bedingter Auftrittsort zu kennzeichnen, der „auf der Flucht“ (diese temporär unter­brechend) erreicht, nicht zu jenem Ort wird, an dem ein Sich-Etablieren möglich wäre.