Fray Servando Teresa de Mier
Eine Revision transatlantischer Diskurse zwischen Kolonie und Unabhängigkeit
Abstract
Es geht dabei nicht, wie bisher häufig geschehen, von einer (kulturellen) Hierarchie zwischen einem europäischen Zentrum und einer lateinamerikanischen Peripherie aus, sondern es möchte vielmehr zeigen, dass Texte wie diejenigen von fray Servando mittels spezifisch literarischer Vorgehensweisen diese und ähnliche Hierarchien gerade unterlaufen, indem sie sich zu den unterschiedlichsten Themen, Personen, Fragen, Perspektiven, Orten, Räumen und Zeiten in Beziehung zu setzen und dabei nicht nur geographische, sondern ebenso häufig auch diskursive Grenzen zu überschreiten wissen. Auf diese Weise entwickelt das Projekt ein Verständnis von Literatur, das Geschichte ebenso wie den Raum, in dem diese sich abspielt, insbesondere in ihrer Relationalität und Dynamik konzipiert.
Dabei sind vor allem Fragen nach den Möglichkeiten und Funktionsweisen des Wissenstransfers zwischen Europa und Lateinamerika von Interesse: Hatte die europäische Aufklärung im Verlauf des 18. Jahrhunderts (Latein-) Amerika vor allem als das „Andere“ der europäisch-aufklärerischen Vernunft entworfen, so wird diese vermeintlich klare Trennung in den Texten der lateinamerikanischen Intellektuellen an der Schwelle zum 19. Jahrhundert dadurch unterlaufen, dass bei ihnen die Übersetzung von Wissen in Literatur in einer Art und Weise geschieht, die auf Interdependenz und Zirkulation statt auf unidirektionale Abhängigkeiten setzt. Auf diese Weise kann zu einem Zeitpunkt, zu dem sich der politische Raum zwischen Europa und Lateinamerika neu ordnet, auch der literarische Raum neu vermessen und abgesteckt werden – nicht umsonst zeichnen sich die „Gründungstexte“ der lateinamerikanischen Literatur deshalb insbesondere durch ihre Hybridität aus.