Tausend Plateaus auf dem Meer
Poststaatliche Gründungsszenarien und mediale Teilhabeversprechen
Abstract
Seasteading ist der Oberbegriff für Projekte, die vor allem in den USA, aber auch in Europa im Umfeld libertärer und kommunitärer Gruppen diskutiert werden und darauf abzielen, extraterritoriale Gemeinschaften in internationalen Gewässern zu stiften. Schiffe, ausrangierte Bohrinseln oder eigens für diesen Zweck geschaffene schwimmende Plattformen sollen als Basen für außerhalb existierender Staaten zu gründende Gemeinschaften dienen. Seit den späten 1990er Jahren hat diese Gründungswelle neuen Schwung durch die Organisationsversprechen der digitalen Netzwerkmedien und veränderter Betriebsführungsmodelle sowie durch finanziell potente Unterstützerkreise im Silicon Valley erhalten.
Das Forschungsvorhaben untersucht die Dynamik von politischen Gründungs- und Erneuerungsszenarien unter den Bedingungen maximaler Teilhabeversprechen auf dem Feld der Staatlichkeit und konzentriert sich dabei insbesondere auf die medialen Bedingungen alternativstaatlicher Gemeinschaftsstiftung und -erhaltung, deren libertäre Akzentuierung das Seasteading in die Nachfolge der politischen Theorie Jean-Jacques Rousseaus rückt.
Weil die Aufforderung, an einer zukünftigen Gemeinschaft teilzuhaben, stets mit einer Anrufung von Subjekten verbunden ist, die die hohe Attraktivität von Partizipationsangeboten mit spezifischen Zumutungen für die Angerufenen verbindet, stellt sich aus theoriegeschichtlicher Sicht die Frage, wann diese Teilhabeparadoxie erstmals in ihrer Struktur und ihren politischen Effekten erörtert worden ist. Dies geschieht, so die These des Forschungsvorhabens, in Rousseaus politischer Theorie, die dieses Spannungsverhältnis im Prozess der Gemeinschaftsgründung mit der Differenz normativer und ‚soziotechnischer‘ Operationen zu fassen erlaubt.
Während Rousseau für die normative Seite der Unterscheidung Begrifflichkeiten und Vorstellungskomplexe unmittelbarer Demokratie heranzieht, die auch historisch ein hohes Maß an rhetorischer Evokationskraft entfaltet haben, stellt er sich, worauf in der Forschung bislang weniger verwiesen wurde, im selben Maße der soziotechnischen Problematik, die mit der Umsetzung seiner politischen Vorstellungen verbunden ist: Das ist der Grund, warum im Contrat social dem Gesetzgeber (législateur) der Baumeister (architecte) beispringen muss. Ohne dessen detailliertes Infrastrukturwissen lässt sich die ‚Gründung eines Volkes‘ und das mit diesem Akt verbundene demokratische Partizipationsversprechen nicht realisieren.
Motiviert werden die Projekte der Gründung maritimer Gemeinschaften unter anderem von der Idee, den Mechanismus des ‚marktwirtschaftlichen‘ Konkurrenzprinzips auf das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Formen der Staatlichkeit zu übertragen, um so einer politisch-organisatorischen Monopolbildung entgegenzuwirken. Die politisch-normative und infrastrukturell-technologische Gründungsleistung, die Rousseau noch in der Hand eines mythischen Gründungsheroen verbunden hatte, geht nunmehr, so die These, auf eine global verteilte Intelligenz über, deren zentrales Artikulationsmedium die digitalen Netzwerkpraktiken und Kommunikationsplattformen sind.
Dabei stellt sich heraus, dass die Projekte einer maritimen Gemeinschaftsbildung darauf abzielen, durch die Erneuerung des Sozialvertrags auf See Druck auf die etablierten Formen von Staatlichkeit auszuüben. Durch die maritimen Neugründungen sollen die Nationalstaaten, die sich inzwischen als hegemoniale staatliche Standardorganisationform weltweit durchgesetzt haben, in eine politische Standortkonkurrenz gedrängt werden. Die Promotoren der floating cities konzipieren Seasteading daher als Competitive Governments on the Ocean.
Seasteading liefert, so gesehen, einen Update des Contrat Social, indem es unter Bedingungen staatlicher Monopolbildung auslotet, wie sich politische Gemeinschaften normativ konzipieren und soziotechnisch implementieren lassen, deren „große Angelegenheit“ (Rousseau) allein die Freiheit und (organisatorische) Gleichheit ihrer Bürger ist. Indem die floating cities eine Politik der heterotopischen Absonderung mit intensiver sozial-medialer Mobilisierung, also hochexklusive Lebensformen mit Partizipationsofferten an die ‚Zurückbleibenden‘ verbinden, lassen sie sich zudem aus der kulturtechnischen Perspektive monastischer Gemeinschaftsgründungen beschreiben.