Genie und Begabung ca. 1890–1930
Abstract
Wenn sich Gesellschaften durch die Art der Prüfungen charakterisieren lassen, mittels derer sie gesellschaftliche Teilhabe – den Zugang zu Ausbildungsmöglichkeiten, Arbeitsstellen, gesellschaftlichem Ansehen und ökonomischen Gütern – regeln (Boltanski/Chiapello 2003, vgl. auch Gelhard 2012), so kommt der Begabtenauslese eine Schlüsselrolle zu. Die 1890 in Deutschland aufkommenden Begabungstests und die damit verknüpften Selektionsmechanismen in Schule und Berufsleben, die von der Einrichtung spezieller Begabtenklassen über die Berufsberatung bis zur Auswahl von Rekruten reicht, bestimmen das kulturelle, wirtschaftliche und politische Leben der Moderne bis in die Gegenwart.
Das Forschungsprojekt wird geleitet von der These, dass das Konzept der Begabung das des Genies beerbt und dessen Inkommensurabilität in eine umfassende Inklusionsphantasie überführt, die sich in der Zeit des Ersten Weltkriegs zu einer Ideologie des Aufstiegs steigert. Das Vorhaben will damit auch ein germanistisches Desiderat beheben, indem es die Transformationen des Geniediskurses um 1900 nachzeichnet, der nicht in dem forschungsgeschichtlich dominanten Konnex von „Genie und Wahnsinn“ bzw. „Genie und Verbrechen“ aufgeht, sondern eine Modernisierung und Normalisierung durchläuft, im Zuge derer sich das Genie – nun unter dem Namen des Begabten – von einer sozial riskanten Figur zu einer Figur statistischer Normalverteilung und schließlich zu einer Figur des Aufstiegs wandelt. Das Konzept der Begabung, so die These, bildet damit eines der Schlüsselelemente der kulturellen Moderne, indem sie deren Problemlagen bündelt und einer Lösung zuzuführen sucht.