Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Erscheinen. Elemente einer politischen Phänomenologie

Prof. Dr. Juliane Rebentisch

Abstract

Hannah Arendts Begriff des öffentlichen Raums als eines Erscheinungsraums muss im Horizont aktueller Entwicklungen auf seine Tragfähigkeit überprüft werden: Die Möglichkeiten individuellen Erscheinens scheinen sich (1) in dem Maße zu erweitern, wie es an politischer Bedeutung verliert. Dem entsprechen (2) politische Bewegungen, die sich gar nicht mehr am Paradigma des Erscheinens orientieren, sondern mit Strategien der Anonymität und des Entzugs operieren.

Was heißt es, öffentlich in Erscheinung zu treten? Glaubt man Hannah Arendt, so bedarf es dafür ganz bestimmter Bedingungen, nämlich eines spezifischen Raums, in dem ein solches Erscheinen für andere allererst wahrnehmbar wird. Ein solcher „Erscheinungsraum“, wie Arendt sagt, entsteht keineswegs automatisch überall dort, wo es zu einer Ansammlung von Menschen kommt, vielmehr konstituiert er sich erst dann, wenn „Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen“. Erst dieses Miteinander schafft einen intersubjektiven Raum des Zwischen, in dem die Menschen nicht bloß wie Dinge in einer gegeneinander gleichgültigen Weise vorhanden sind, sondern ausdrücklich vor- und füreinander in Erscheinung treten. Ein solcher Erscheinungsraum ist offenkundig nicht auf architektonische oder geographische Gegebenheiten reduzierbar; es handelt sich vielmehr um einen performativ, durch eine gemeinsame Praxis hervorgebrachten Raum. 

Politik nun ist nach Arendt nichts anderes als das, was sich im öffentlichen Erscheinungsraum ereignet. Politik und Öffentlichkeit erläutern in Arendts Bild nicht nur einander, vielmehr stehen beide gemeinsam überdies für die Realisierung des Menschlichsten im Menschen. Allein im immer auch performativen Wettstreit mit den anderen zeige und bilde sich Individualität; allein in solchem, wie auch immer agonalen, Miteinander konstituiere und erhalte sich eine gemeinsame Welt. Für Arendt ist es folglich das öffentliche Erscheinen selbst, in dem sich die in individueller wie sozialer Hinsicht höchste Form menschlicher Freiheit realisiert. Eine solche Freiheit birgt nach Arendt zugleich die Freiheit zur Transformation des Gemeinsamen, weil jeder Mensch qua Einzigartigkeit die Möglichkeit zum Anfang, und das heißt: zum Setzen eines Neuen habe. Der Erscheinungsraum ist also durchaus dynamisch zu verstehen; er verändert sich durch das öffentliche Tun der in ihm Erscheinenden.

Nun ist in der jüngeren politischen Philosophie zu Recht darauf hingewiesen worden, dass der Arendtsche Kurzschluss von Öffentlichkeit, Politik und Freiheit zu kurz greift. Er übersieht, den hochgradig politischen Status, der dem Akt des Unterscheidens zwischen Politischem und Nichtpolitischem selbst zukommt. Politik findet, so hat insbesondere Jacques Rancière gegen Arendt betont, gerade dort statt, wo die Grenze zwischen dem Politischen und dem Nicht- oder Präpolitischen, wo folglich auch die Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre auf dem Spiel steht. Wenn es zu einer Verschiebung in der Aufteilung dieser Sphären kommt, ereignet sich Politik gewissermaßen als Ausnahme von sich selbst: nämlich von sich selbst in der institutionalisierten Gestalt, in der eine bestimmte Unterscheidung zwischen politischem und nichtpolitischem, öffentlichem und privatem Leben Wirklichkeit gewinnt. Sofern es aber Politik gibt, die sich gegen ihre eigene Institutionalisierung wenden kann, vermögen sich auch Öffentlichkeit und Politik nicht mehr problemlos wechselseitig zu erläutern, vielmehr treten sie, zumindest potentiell, in ein Spannungsverhältnis. Dem Einbekenntnis, dass solche Spannungen immer möglich sind, entspricht ein zu Arendts Republikanismus alternatives Demokratieverständnis, das eine viel radikalere Dynamik des Erscheinungsraums als die von Arendt beschriebene zu denken erlaubt. 

So wichtig indes die Einsicht in die volle Dynamik des Erscheinungsraums, so wichtig ist es andererseits, sich Tendenzen zuzuwenden, die in den westlichen kapitalistischen Gesellschaften die internen und externen Dynamiken des politischen Erscheinens überhaupt blockieren – Tendenzen, die die Sphären von Öffentlichkeit und Privatheit im Zeichen der kapitalistischen Ökonomie vermischen. Diese Tendenzen sind keineswegs ganz neu; auf unterschiedliche Weisen stellen bereits Arendt und Rancière eine entsprechende Krisendiagnose. Während Arendt Mitte des 20. Jahrhunderts den Verlust der Singularität und Außergewöhnlichkeit der sich im interesselosen Wettstreit mit Ebenbürtigen produzierenden Einzelnen beklagt, geht es Rancière zu Beginn des 21. Jahrhunderts um das Ausbleiben des Dissenses zwischen einer etablierten Macht des Miteinander und den von ihr Ausgeschlossenen. So unterschiedlich die jeweiligen Krisendiagnosen sind, beide klagen das Erscheinen eines Nichtidentischen auf der Bühne des Politischen ein, ohne welches diese Bühne selbst sich in Nichts auflösen müsste. In der Sorge um den Verlust von signifikanten Differenzen nehmen diese Theorien eine in demokratietheoretischer Hinsicht einschlägige Linie philosophischer Kulturkritik auf, die von Tocqueville über Mill, Emerson, Nietzsche bis hin zu Adorno und Horkheimer führt. 

Das Forschungsvorhaben schließt hier an, um sich zwei Herausforderungen zuzuwenden, denen sich das Verständnis des öffentlichen Raums als eines Erscheinungsraums heute gegenübersieht. Zum einen scheint das individuelle Erscheinen im Zeichen jüngster ökonomischer und technologischer Entwicklungen in dem Maße ubiquitär zu werden, wie es jede politische Bedeutung verliert. Zum anderen lassen sich bereits neue Formen des Protests ausmachen, die auf diese Problemlage reagieren. Für sie ist, zumindest vorderhand, weniger das anerkennungstheoretische Paradigma der Sicht- und Hörbarkeit denn das der Unsichtbarkeit und Opazität relevant, das sich aber paradoxerweise ebenfalls öffentlich demonstriert und also eine eigene Performanz aufweist. Beide Aspekte – die Aushöhlung des politischen Charakters des Erscheinens wie seine performative Negation – können von einer Theorie des öffentlichen Raums als eines Erscheinungsraums nicht ignoriert werden; mehr noch: ihre Untersuchung verspricht ein vertieftes Verständnis seines Begriffs.