Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

In der Schule der Moderne

Epochenkommentare und Bildungsprozesse in der deutschsprachigen Schulliteratur zwischen 1880 und 1918

Gwendolyn Whittaker

Abstract

Um 1900 erlebt die Gattung der Schulliteratur eine Hochkonjunktur. Zu Beginn des „Jahrhunderts des Kindes“, das die schwedische Reformpädagogin Ellen Key in ihrer gleichnamigen Programmschrift ausruft, strukturieren eine Reihe bildungspolitischer Maßnahmen das Schulsystem grundlegend um, wird der Buchmarkt mit pädagogischer Publizistik geflutet, fordern reformpädagogische Bewegungen alternative Erziehungskonzepte ein. Erziehung und Bildung werden zu Medien, mit deren Hilfe die moderne Gesellschaft ihre Zukunft zu denken versucht. Gegenstand der Schultexte, die zwischen 1883 und 1918 erscheinen, sind Bildungsinstitutionen, die mal starke Parallelen zum Schulsystem der Jahrhundertwende aufweisen, mal durch deutlich utopische Züge gekennzeichnet sind.

Warum wird der Schule um 1900 ein solches literarisches Interesse zuteil? Die überschaubare Forschung zu dem Gegenstand zieht zur Beantwortung dieser Frage institutionelle Aspekte heran: Häufig auf die schulische Realität der Jahrhundertwende verweisend, betont sie asymmetrische Machtverhältnisse, Leistungsdruck und institutionelle Repression als Phänomene, die eine gelungene Entwicklung des Protagonisten verhinderten. Diese Perspektive führt allerdings häufig zu einer schlichten Paraphrase des Plots und versperrt den Blick auf das diagnostische Potential, das den Texten eignet. Indem mein Dissertationsprojekt aus synchroner und diachroner Perspektive das Korpus systematisch zu erschließen versucht, soll diese spezifische Kommentarleistung entfaltet werden.

Aus synchroner Perspektive interessiert mich in einer diskursanalytischen Lesart der literarische Gegenstand Schule als Ort der Konfrontation verschiedener moderner Programmatiken. Zwischen 1873 und 1900 nimmt Wilhelm II. eine bildungspolitische Inventur vor und lässt die preußischen Lehrpläne grundsätzlich überarbeiten. Ziel ist es, den Ansprüchen einer modernen Gesellschaft gemäß nicht nur humanistisches, sondern auch naturwissenschaftlich-technisches Bildungsgut zu vermitteln und die nachwachsende Generation körperlich-militärisch auszubilden. Diese ideologische Indienstnahme der Schulen und der entsprechend selektive Kanon der Lehrgegenstände geraten ins Fadenkreuz der Kulturkritik und pädagogischer Reformbewegungen. Zwischen Instrumentalisierung seitens des Staates und Inanspruchnahme durch Reformer kann die Schule der Jahrhundertwende daher als Seismograph und Brutstätte moderner Mentalitäten betrachtet werden und besetzt so eine bestimmte semiotische, konkret: synekdochische Funktion. Das machen die Literatur, die frühe Soziologie und die Pädagogik durch Variationen des Bildes der Schule als Staat im Staat explizit.

Das diachrone Lektüreinteresse möchte ich in einem gattungstheoretischen Ansatz verfolgen. Hier besteht die Arbeitshypothese in der Annahme, dass zwischen dem Bildungsroman des 19. Jahrhunderts und der Schulliteratur der Jahrhundertwende eine Gattungskontinuität besteht. Um 1900 scheint dieser Gattungsstrang ein Zeitbewusstsein zu entwickeln und auf seine eigene Tradition zu reagieren, denn viele der Texte lassen sich als Travestie, Persiflage oder als Spiel mit dem Bildungsroman lesen. In diesem Zusammenhang befragt die Literatur auch immer wieder den Stellenwert, der ihr selbst in modernen Bildungsprozessen zukommt. Welche Sedimente des Bildungsromans lassen sich in der Schulliteratur nachweisen? Welche Rolle kommt dem Konzept des Institutionenromans (Rüdiger Campe) dabei zu? Welche Tektonik literarischer Kommunikation kann man aus dem beschriebenen Sachverhalt ableiten? Und nicht zuletzt: Welche Konsequenzen hat dies für den Begriff der Bildung, wie ihn die Moderne versteht?

Neben dem literaturwissenschaftlichen Desiderat der Erschließung der deutschsprachigen Schulliteratur um 1900 will mein Dissertationsprojekt insofern einen Beitrag zur Clusterthematik „Kulturelle Grundlagen von Integration“ leisten, als gerade die Literatur Aufschluss über Vorstellungen von Integration liefern kann, die Konzepten von Bildung und Erziehung eingeschrieben sind.