Wie aus Koranlehrern Kinderhändler werden
Senegals Dilemma der bettelnden Koranschüler
Von Sahra Fuchs
„Du forschst über Menschenhandel im Senegal? Ist das denn nicht gefährlich?!…“ war die erschrockene, wenn auch etwas sensationslüsterne Reaktion einer meiner Freundinnen, als sie mich nach dem Thema meiner Dissertation fragte. „Machst du das dann verdeckt? Die Menschenhändler reden doch bestimmt nicht freiwillig mit dir…? Und viele schlimme Sachen hast du bestimmt gesehen, wie kommst du damit zurecht?“
Ihre Fragen wunderten mich nicht, wird doch das Phänomen Menschenhandel hierzulande durch eine entsprechende mediale Vermittlung in erster Linie mit Zwangsprostitution oder der Schleusung von Flüchtlingen verbunden. Und Berichte über die Grausamkeiten skrupelloser und profitgieriger ‚Menschenhändler‘ versprechen nicht nur Aufmerksamkeit, sondern prägen auch unsere Sicht auf damit verbundene Probleme.
Im Senegal machte ich mich auf die Suche nach Diskursen um Menschenhandel, um herauszufinden, welche (Re-)Interpretationen dieses transnationale Konzept im lokalen Umfeld erfährt. Ist der vermeintlich objektive Tatbestand des Menschenhandels nur eine vieler möglicher Interpretationen bestimmter sozialer Phänomene?
Sëriñ Kebe ist so ein ‚Menschenhändler‘. Zumindest für manche. Für andere ist er ein Koranlehrer, eine ehrenvolle Respektsperson, die dem Zeitgeist und politischen und ökonomischen Widrigkeiten trotzt. Einer, der den Kindern Senegals eine muslimische, nicht von westlichen Werten und Marktlogiken ‚verdorbene‘ Ausbildung ermöglicht. Mit meinem Vermittler und Übersetzer Lamine, der sich in mehreren zivilgesellschaftlichen Projekten engagiert, besuche ich Kebe für ein Interview in seiner Koranschule in einem Vorort von Dakar, der Hauptstadt Senegals.
Bei gleißender Hitze folgen wir zwanzig Minuten einem von Müll gesäumten Trampelpfad, bevor wir auf ein Gelände mit mehreren Holzbaracken und einem kleinen Steinhaus gelangen. Der süßlich-faulige Geruch nach ungewaschenen Körpern und Kleidern, der mir mittlerweile von vielen Besuchen in solchen ärmlichen Koranschulen vertraut ist, schlägt mir entgegen. Unter einem mit Wellblech überdachten Verschlag sitzt eine Gruppe talibés (Koranschüler) auf dem Boden, vertieft in ihre Koranstudien und überwacht von einem älteren Schüler mit einer Rute in der Hand.
Fliehen die Eltern aus ihrer Verantwortung?
Das Ziel der traditionellen senegalesischen Koranausbildung ist es, den gesamten Koran auswendig zu lernen, ihn zu verinnerlichen. Die wenigen, die diese schwierige Aufgabe überhaupt bewältigen, benötigen dafür drei bis zehn Jahre – je nachdem, wie leicht sie lernen, und vor allem, wie viel Zeit ihnen für das Koranstudium bleibt. Denn in vielen Fällen müssen sie ihren eigenen Lebensunterhalt und den ihres Lehrers erbetteln und verbringen daher oft den Großteil eines sehr langen Tages auf den Straßen Dakars.
Dieses stundenlange Betteln betrachten viele Senegalesen als Pervertierung des traditionellen Bittens um Almosen der Koranschüler, welchem nicht nur eine rein existenzsichernde, sondern auch eine persönlichkeitsbildende und gesellschaftliche Bedeutung zugeschrieben wurde. Während der Dauer der Koranausbildung sehen die talibés ihre Eltern, die sie dem Koranlehrer anvertraut haben, meistens nicht und nur wenige haben die Möglichkeit, auch nur telefonisch oder über Dritte Kontakt zu ihr zu pflegen. Dies brandmarken gegenwärtig viele Kinderrechtsakteure leichtfertig als ökonomisch motivierte elterliche „Verantwortungsflucht“. Sie scheinen dabei jedoch auszuklammern, dass in einem konservativen westafrikanischen Erziehungskonzept Disziplin und Abhärtung ebenso einen hohen Stellenwert haben wie die Überzeugung, ein Kind ‚gehöre‘ nicht nur seinen biologischen Eltern, sondern der ganzen Gemeinschaft.
Koranschulen im Visier internationaler Kinderrechtsorganisationen
Als Sëriñ Kebe uns schließlich in seinen gepflegten Wohnräumen empfängt, atme ich erst einmal durch, denn hier ist die Luft dank eines modernen Ventilators angenehm kühl. Die sprichwörtliche senegalesische Gastfreundschaft verpflichtet Kebe, uns Besuchern gleich bequeme Stühle und Wasser anzubieten. Furchteinflößend ist die Situation wahrlich nicht. Die Begrüßung dehnt sich, wie immer im Senegal, durch diverse Höflichkeitsfloskeln aus und ist sehr respektvoll, aber Kebe lässt mich eine gewisse Distanz spüren:
„Ich empfange Sie nur, weil Sie von einer Universität, und nicht von einer NGO kommen… Mit denen spreche ich nicht mehr. Die sind schon so oft gekommen, und verschwinden dann mit einem Haufen an Informationen über die talibés und mich und vielen leeren Versprechungen auf Nimmerwiedersehen.“
Für Kebe ist es nicht neu, dass Koranschulen wie die seine derzeit im Visier trans- und internationaler Kinderrechtsakteure stehen. Die bettelnden Koranschüler sind zwar schon seit Beginn der 1990er Jahre Thema im globalen Kinderrechtsdiskurs, aber mit der Unterzeichnung des Palermo-Protokolls der Vereinten Nationen zur „Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung von Menschenhandel“ (2000) ging der Senegal neue internationale Verpflichtungen ein.
Auch für zivilgesellschaftliche Organisationen stellt dieses Paradigma seither eine vielversprechende Möglichkeit dar, um Zugang zu internationalen Projektgeldern zu erhalten. Da die talibés in den meisten Fällen aus ihren Herkunftsdörfern in die Koranschulen „transportiert“ und dort „beherbergt“, sowie von ihren Koranlehrern zum Betteln gezwungen und damit „ausgebeutet“ werden, sind bei einer entsprechenden Interpretation die notwendigen Kriterien erfüllt, um nach UN-Definition von Menschenhandel sprechen zu können. Denn bei Kindern wird im Gegensatz zu Erwachsenen als hinfällig erachtet, ob sie dem Transport freien Willens zugestimmt haben oder nicht.
Betteln für den Fortbestand der Koranschulen?
In den Augen von religiös-konservativen Akteuren wie Kebe hingegen stellt diese moralische Panik um die bettelnden talibés eine „Heuchelei“ dar, in der sie eine Kontinuität anti-islamischer kolonialer Politiken sehen. Die französische Kolonialverwaltung hatte bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Senegal nämlich die Koranschulen mit allerlei Erlässen zu Gunsten säkularer Schulen einzudämmen versucht, bevor sie gute Beziehungen mit dem gesellschaftlich machtvollen religiösen Milieu als unverzichtbar für ihren eigenen politischen und ökonomischen Erfolg erkannte. Jedoch hat auch der unabhängige säkulare Staat Senegal die Koranschulen bis heute nie subventioniert. Deshalb erachten die meisten Koranlehrer und manche Bevölkerungsteile das Betteln als eine legitime Notwendigkeit, um die Koranausbildung nicht dem Untergang preiszugeben.
„Wenn der Staat und all die ausländischen NGOs den talibés wirklich helfen wollen, warum geben sie denn nicht einfach das Geld, das sie in teure Konferenzen und Reports stecken, direkt den Koranschulen, um die Lebensbedingungen der Kinder dort zu verbessern?“,
entrüstet sich Kebe und spricht dabei vielen Gleichgesinnten aus der Seele. Den Eltern der talibés, die ihre Kinder ganz ohne finanzielle Unterstützung zu ihm schicken, macht er hingegen keine Vorwürfe. Er äußert Verständnis für deren Armut und deren Wunsch, als Muslime ihren Kindern eine islamische Ausbildung zu ermöglichen.
Während Kebe sich in Rage redet, kommen hie und da talibés in den Raum, geben ihrem sëriñ die Hand ohne ihm dabei in die Augen zu schauen und werfen Reis und Zuckerstücke in einen großen Eimer, nachdem Kebe mit einem kurzen Blick die Menge abgenickt hat. Darüber, welche Folgen keine oder geringe Bettelerträgen für die Kinder haben, bleibe ich im Ungewissen.
Sicher ist, dass es unter Senegals Koranschulen große Unterschiede gibt: Manche Koranlehrer lehnen das Betteln kategorisch ab, andere lassen die talibés nur ihre eigenen Mahlzeiten oder nicht festgelegte und geringe Geldbeträge erbetteln. Wieder andere jedoch fordern täglich hohe Abgaben und bestrafen deren Nichterfüllen drakonisch, was die talibés dazu zwingt, lange Stunden täglich auf Dakars Straßen die Passanten um Barmherzigkeit zu bitten und sich manchmal zusätzlich für allerlei Gelegenheitsarbeiten, zum Beispiel als Lastenträger, anzubieten.
Kulturelle Praxis oder Kinderhandel?
Diese großen Unterschiede der Ausbildungspraktiken und deren Interpretationen zwischen ‚kultureller Praxis‘ und ‚Kinderhandel‘ tragen neben der Verstrickung des politischen und religiösen Milieus maßgeblich dazu bei, dass es im Senegal so schwierig ist, einen gesellschaftlichen Konsens über den Umgang mit den bettelnden Koranschüler zu erreichen. ‚Misshandlung‘ und ‚Ausbeutung‘ haben ebenso wie ‚Ausbildung‘ und ‚Erziehung‘ keine universal gültige Bedeutung, sondern unterliegen soziokulturell und sozioökonomisch geprägten Interpretationen, die nur in extremen Fällen über alle sozialen Grenzen hinweg übereinstimmen.
Ein rigoroses politisches Vorgehen gegen die Koranschulen im Senegal bleibt daher dem Dilemma verhaftet, dass den tatsächlich unhaltbaren Zuständen in vielen Koranschulen kaum ein Ende gemacht werden kann, ohne gleichzeitig Alternativen zu einem global normierten Kindheits- und Bildungskonzept für ungültig zu erklären.
Sarah Fuchs ist seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Exzellenzclusters im Forschungsprojekt „The Anthropology of Crime Control and Human Trafficking“ unter der Leitung von Prof. Dr. Thomas G. Kirsch (Professur für Ethnologie und Kulturanthropologie) an der Universität Konstanz. Ihr Promotionsprojekt mit dem Titel „Kriminelle Kultur? Kontroversen um Menschenhandel und bettelnde Koranschüler im Senegal“ basiert auf einer 15-monatigen Feldforschung im Senegal, hauptsächlich in Dakar.
Über die Reihe
Dieser Beitrag ist der dritte einer dreiteiligen Sommerserie von Forschungsreportagen aus Afrika.
In ihnen schildern Tim Bunke, Anna Hüncke und Sarah Fuchs Erfahrungen aus ihren Feldforschungen zum Menschenhandel in Afrika.
Im ersten Beitrag schildert Tim Bunke in einer Audio-Slideshow seine Eindrücke vom Alltag an der Grenze zwischen Sambia und Tansania.
Im zweiten Beitrag von Anna Hüncke trifft die südafrikanische Polizei auf eine Gruppe versklavter Äthiopier – oder sind es willentlich illegal eingereiste Arbeitsmigranten?
Alle drei promovieren bei Prof. Dr. Thomas G. Kirsch an der Universität Konstanz.