„Exil bei der Literaturwissenschaft“?
Der explizite Betrachter. Rezeptionsstrukturen zeitgenössischer Kunst
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16. Juli 2014, 105 min.
In ihrer Begrüßungsrede hebt Aleida Assmann hervor, dass mit Wolfgang Kemp nun, nach Vorträgen von Literaturwissenschaftlern und Literaturwissenschaftlerinnen wie Linda Hutcheon, J. Hillis Miller oder Geoffrey Hartman, ein Kunsthistoriker der ideale Redner für die 6. Wolfgang-Iser-Lecture sei.
Denn dieser habe
„die Theorieentwicklung in den Literaturwissenschaften über die Fachgrenzen hinweg aufmerksam verfolgt, scharfsinnig analysiert und vor allem auch für sein eigenes Fach produktiv gemacht“.
Dies gelte besonders für die Erzählforschung, die Theorie der Intertextualität und die Rezeptionsästhetik.
Getreu dieser Forschungsinteressen beschäftigte sich auch Kemps Iser-Vortrag über den „expliziten Betrachter“ mit „Rezeptionsstrukturen zeitgenössischer Kunst“. Für Wolfgang Kemp ist der explizite Betrachter der Rezipient, der selbst im Kunstwerk agiert und als dessen Teil fungiert, ein „1:1-Verhältnis von Kunstwerk und Betrachter“. In seiner Rede zeichnete Kemp die Kunstströmungen des 20. und 21. Jahrhunderts nach, die diese Übereinstimmung von Betrachter und Werk in verschiedenster Weise aufgreifen und durchspielen.
Auf das Jahr 1967 datierte Kemp „die epochale Wende hin zu einer betrachterorientierten Kunstübung“ – und das nicht von ungefähr: Während Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser in Konstanz die „Erfahrung des literarischen Werkes durch seine Leser“ (Jauß) zum Fokus einer neuen literaturwissenschaftlichen Forschung erklärten, begann auch die Karriere des US-amerikanischen Künstlers Bruce Nauman.
Dieser stellte in seinen klaustrophobischen Korridoren ebenfalls die Rezipienten in den Mittelpunkt der künstlerischen Betrachtung. Seine Installationen laden die Ausstellungsbesucherinnen und -besucher ein, „den unangenehmen Parcours“ beklemmender Flure unter den Augen anderer Betrachter zu absolvieren. So mache der Rezipient die Installation erst komplett, indem er sich darin bewege. Diese Erhebung des Besuchers ins/zum Kunstwerk bringe allerdings einen verstörenden Widerspruch, einen Double Bind, hervor: „Die scheinbare Ermächtigung des Betrachters erfolgt unter Bedingungen, welche die Werkmacht“, zusammen mit dem Künstler als „Versuchsleiter“ festlegt.
Die nach den 60er und 70er Jahren entstandenen Kunstströmungen der Postmoderne hätten diese Situation des Double Bind allerdings nicht entscheidend weiterentwickelt, obgleich auch sie den Betrachter zu einem Teil des Kunstwerks machten. Als „Kunst 2.0“ beschrieb Kemp eine dieser Richtungen, die Interaktionen, also eine „Mitmachkunst“, schaffen wolle. Ihre Künstlerinnen und Künstler verstünden sich als „Mittler“, die die Bedingungen für das Entstehen von Beziehungen und Interaktionen zur Verfügung stellen: „Sie schaffen ein Angebot, gründen z.B. eine Partei und warten darauf, dass die Teilnehmer weitermachen“.
Die Eventkunst treibe diese Entwicklung auf die Spitze, indem sie von der Interaktion der Betrachter zu deren totaler „Immersion“ im Kunstwerk übergehe. Als Beispiel analysierte Kemp Olafur Eliassons gigantische Installation „The Weather Project“ (2003). In ihr konnten die Besucherinnen und Besucher der Tate Modern nicht nur die von einer riesenhaften künstlichen Sonne und synthetischen Nebelschwaden erzeugte Lichtstimmung ehrfurchtsvoll bestaunen, eine Spiegeldecke erhob sie und das Treiben der Publikumsmassen selbst zu einem Teil des Kunstwerkes. Mit der Betonung des Gigantischen, Sinnlichen, „Atmosphärischen“, werde das Kunstwerk so zum Event, von dem sich der Betrachter unterhalten, einhüllen und überwältigen lassen könne.
Diese auf Interaktion und Immersion ausgerichteten betrachterorientierten Kunstrichtungen beschrieb Kemp in seinem Fazit als eine Art Erfolgsprojekt, das „zur Selbstverständlichkeit in der ästhetischen Sphäre wurde.“ In diesen Strömungen sah er jedoch keinesfalls das Ende der von ihm beschriebenen Entwicklung der „Rezeptionsstrukturen zeitgenössischer Kunst“. Er spekulierte über eine weitere Wende, nämlich die des Betrachters weg vom Kunstwerk, hin zur „Rezeptionsverweigerung“, bei der nicht mehr das Werk, sondern nur sein Marktwert und seine Wiedererkennbarkeit betrachtet würden. „Wenn das so weitergeht,“ schloss Kemp humorvoll, „bewerbe ich mich auf Dauer um ein Exil bei der (Konstanzer) Literaturwissenschaft.“ Das wäre, so bewies sein witzig pointierter, anschaulicher und teilweise provokativer Vortrag, ein großer Gewinn für die Literaturwissenschaft, aber ein herber Verlust für das Fach Kunstgeschichte.
Vita
Wolfgang Kemp habilitierte sich nach dem Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik 1979 im Fach Kunstgeschichte. Nach Professuren an der Gesamthochschule Kassel und der Universität Marburg hatte er von 1995 bis zu seiner Emeritierung den Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Universität Hamburg inne.
Publikationen wie Geschichte der Fotografie (2011), Architektur analysieren (2009) oder Christliche Kunst (1994) zeugen von der Breite seiner kunstwissenschaftlichen Interessen.
Publikation
Wolfgang Kemp: Der explizite Betrachter. Zur Rezeption zeitgenössischer Kunst. Konstanz: Konstanz University Press 2015.
über das Buch