Wolfgang Iser
(1926-2007)
Jugend
Wolfgang Iser wurde 1926 in Marienberg im Erzgebirge in einer traditionsreichen sächsischen Kaufmannsfamilie geboren. Sich selbst und seine Leser explizit davor warnend, zu viel in die eigenen Kindheitserinnerungen „hineinzulesen“, stellte er in einem 1975 für die Heidelberger Akademie der Wissenschaften verfassten Text ein Grundbegehren an den Anfang seiner intellektuellen Biographie: Das unentwegte Verlangen, sich der – durchaus liebenswürdig gezeichneten – Welt des Elternhauses zu entziehen, sei zentraler Auslöser gewesen, sich der Literaturwissenschaft zuzuwenden. Diese Distanzierung vom Selbstverständlich-Gegebenen und ein damit verbundener permanenter Neuanfang und Aufbruch ziehen sich wie ein roter Faden durch das Leben Wolfgang Isers.
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges sah er gerade im Studium der Philologie die Möglichkeit, sein Streben nach Abstand zu verwirklichen. Von der Literatur hatte sich der achtzehnjährige Iser dabei nicht zuletzt Lebensorientierung in einer als unbeständig erfahrenen Gegenwart versprochen. Praktische Lebenshilfe, soviel war für Iser nach der Schulzeit während des Nationalsozialismus deutlich geworden, hielt die deutsche Philologie dabei nicht bereit: zu eng war die Literaturinterpretation deutscher Werke mit ihrer propagandistischen Indienstnahme verbunden gewesen.
Studienzeit ‒ reflexive Distanz
So begann Iser 1945 romanische und englische Philologie in Leipzig zu studieren. Literatur konnte für Iser seit Beginn des Studiums kein Selbstzweck mehr sein und folglich stand er der immanenten Beschäftigung mit Texten skeptisch gegenüber: Seine Studienzeit war von beständigen Bemühungen geprägt, das eigene Literaturverständnis an anderen Wissensbereichen zu schulen und somit reflexive Distanz zu einem verbindlichen Fach zu wahren. So führte ihn sein Weg zur Philosophie und Psychologie, von Leipzig über Tübingen nach Heidelberg. In dieser Zeit lassen sich auch die Anfangsimpulse für Isers spätere Hinwendung zur anthropologischen Literaturbetrachtung aufzeigen. Von seinem Tübinger Lehrer Eduard Spranger übernahm er ein Modelldenken, das es erlaubte, „die Literatur und ihre Geschichte aus der Veränderbarkeit anthropologischer Dispositionen zu begreifen“ (Iser). 1950 erlangte Iser mit einer Arbeit über Henry Fielding den Grad des Dr. phil. und ging als Lektor nach England.
Berührung mit der englischen Moderne
Dort lernte er erstmalig eine ihm bis dahin unbekannte literarische Welt kennen: die Moderne. Im Deutschen Literaturarchiv in Marbach sind seine intensiven Exzerpierarbeiten dieser Jahre zu fast allen Werken der modernen englischsprachigen Literatur erhalten, die zeigen, wie gründlich sich Iser diesen Textkorpus erschloss. Moderne Literatur interessierte Iser vor allem als „Reflexionskunst“. Denn schon die Texte selbst stellen Fragen nach der methodischen und theoretischen Modulation der Zugriffe, mit denen sie interpretiert werden können. Eine so konfigurierte Erkenntnis von Erkenntnis als notwendig Unfertige faszinierte Wolfgang Iser: Hier war es die Literatur selbst, die nach Abstand und Unterscheidung verlangte.
Mit einer Arbeit über das Phänomen des Ästhetischen im fin de siècle, welche dann der weiteren analytischen Beschäftigung mit der Moderne den Weg wies, habilitierte sich Iser 1957. Im selben Jahr wurde Iser als ordentlicher Professor an die Universität Würzburg, 1963 dann nach Köln berufen. Retrospektiv betrachtet entstanden in diesem Zeitraum seine wesentlichen Werke zur Moderne. An seine These von der Reflexionskunst anknüpfend, definierte Iser in den nachfolgenden Texten moderne Kunst dadurch, dass sie Reflexionsprozesse auslöse; Literatur mache, so Iser, ihr „eigenes Medium und die Prozesse des Erzeugens selbst thematisch“.
Die Konstanzer Jahre ‒ Wirkungsästhetik
Nachdem er 1967 nach Konstanz berufen wurde, widmete sich Iser der Ausarbeitung einer Wirkungstheorie der Literatur, die zusammen mit Hans Robert Jauß’ Rezeptionstheorie trotz markanter Unterschiede unter dem gemeinsamen Titel der „Konstanzer Schule“ firmiert. In der Ausdifferenzierung seiner Wirkungsästhetik prägte Wolfgang Iser (im Anschluss an Roman Ingarden) den Begriff der „Leerstelle“, welche die „verschiedene Verstehbarkeit von Texten“ bewirke und die Kommunikation mit einem Text erst ermögliche. Als Bilanz seiner Arbeit erschien 1972 „Der implizite Leser“.
In Konstanz fand Iser seine Bedürfnisse nach Distanz und gleichzeitigem Austausch auch institutionell verankert. Denn die Reformidee einer Literaturwissenschaft anstelle einzelner Philologien schützte auch strukturell vor disziplinärer Einseitigkeit.
Allen literarischen Texten, unabhängig welcher Sprache sie sich bedienen, sei ihre (graduelle) Fiktionalität eigentümlich. Warum es Fiktionen gibt und wozu oder weshalb Menschen sie brauchen, waren zentrale anthropologische Fragen, die Iser nicht zuletzt im zwischenfachlichen Verbund der Konstanzer Universität diskutieren wollte. Auch hier wird das Fiktive (Hans Blumenbergs Überlegungen zum Mythos nicht unähnlich) als Distanzbewusstsein konfiguriert. Gerade im Wissen um die Überwältigung des Menschen durch reines Dasein können Fiktionen Möglichkeitsräume einer distanzierten Selbstbehauptung erschließen. Als Mitglied der Gruppe „Poetik und Hermeneutik“ trug er diese Fragen auch in die Kolloquien der Forschungsgruppe hinein; Höhepunkt dieser Auseinandersetzung bildet der zehnte Band der Konferenzserie „Funktionen des Fiktiven“, den Iser zusammen mit dem Philosophen Dieter Henrich herausgab, sowie seine 1991 erschienene Einzelpublikation „Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie“. Fragmentarisch blieben seine Überlegungen zur Emergenz. In seinem Nachlass finden sich jedoch unpublizierte Texte, die die langjährige Arbeit an diesem Thema eindrucksvoll dokumentieren.
Weltweite Lehrtätigkeiten
Seit 1978 hatte Iser an der Universität von Irvine in Kalifornien eine ständige Gastdozentur inne, er lehrte ferner an den Universitäten Wesleyan (USA), Berlin, Wassenaar (Holland), Jerusalem, Princeton, Basel sowie an weiteren kanadischen und amerikanischen Universitäten. Er war Ehrendoktor der Universitäten von Sofia, Siegen und Bukarest. Vielleicht lassen sich auch diese regen Reise- und Lehrtätigkeiten auf den Grundimpuls des Auszugs aus dem Elternhaus zurückführen. Nichts schien Wolfgang Iser unangenehmer, als der irritationslose geistige Stillstand, nichts verlockender als das immer wieder neu ansetzende, nicht festgelegte Gespräch: Ein Charakterzug, der ihn als idealen akademischen Reisenden – sowohl topographisch als auch metaphorisch – qualifizierte.
Wolfgang Iser starb am 24. Januar 2007. Auf seinem Grabstein steht die Zeile eines Gedichts von John Dryden: „never ending, still beginning“.
Weitere Informationen
Literatur von und über Wolfgang Iser im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Nachlass von Wolfgang Iser im Deutschen Literaturarchiv Marbarch
Nachlass-Bibliothek Wolfgang Iser. Pressemitteilung des Exzellenzclusters (PDF)
5. Januar 2009