Franco Moretti (2015)
Micromégas: the very small, the very large, and the space of digital humanities
13. Juli 2015
Universität Konstanz, Senatssaal V 1001
Franco Moretti ist Danily C. and Laura Louise Bell Professor in the Humanities an der Stanford University.
Er gehört zu den profiliertesten Vertretern der Digital Humanities.
Besonders sein Buch „Distant Reading“, in dem er für eine neue Art der Literaturwissenschaft neben dem traditionellen close reading plädierte, sorgte 2013 für Furore. Die gleichnamige deutsche Übersetzung des Buches erschien 2016 bei Konstanz University Press.
Bericht
von Annika Frömel und Anna Lüscher
In seiner Begrüßung stellt Albrecht Koschorke Morettis Arbeiten zur computergestützten Literaturanalyse vor: Ausgehend von dem programmatischen Essay „Conjectures on World Literature“ (2000) gelangt er zur Frage zu, was wohl Wolfgang Iser zum Konzept des distant reading gesagt hätte. Wäre er damit einverstanden gewesen, ein Software-Programm als impliziten Leser im Sinne der Rezeptionstheorie anzuerkennen?
Was hätte Wolfgang Iser zum distant reading zu sagen?
Zwar hätten beide Ansätze miteinander gemein, den Akzent auf die Seite der Rezeption zu legen, aber mit einem entscheidenden Unterschied: Die Rezeptionstheorie ging davon aus, dass Texte unvollständig sind, wenn sie nicht gelesen werden, weil sich in ihnen ein Kommunikationsprozess zwischen Autor und Leser abspielt. Sie war insofern noch der alten rhetorischen Annahme verhaftet, dass Literatur ein Gespräch sei, wenn auch mit schriftlichen Mitteln. Diese Vorstellung, so Koschorke, sei dem Konzept des distant reading fremd, das einen formaleren, objektivierenden, kühlen Blick auf große Textmengen einübe.
Ganz anders indessen wirke der Tenor von Morettis Arbeiten selbst:
„What is characteristic for Franco Morettis writings, however“, so schließt Koschorke seine Einleitung, „is the fact that his personal style gives a completely different impression: very personal, tentative, essayistic, and in many respects also politically highly engaged. And last but not least routed in a philological ethos in its deepest sense: in love of literature.“
Zu Anfang seines Vortrags nimmt Franco Moretti die Frage auf, wie Wolfgang Iser sich zu den Digital Humanities gestellt hätte. Er konzediert, dass Rezeptionstheorie und quantitative Literaturanalyse nicht miteinander vereinbar sind. Er zeigt aber auch die Grenzen der Rezeptionstheorie auf, in der faszinierende Aspekte seiner eigenen Arbeit keinen Platz hätten, etwa der kollektive, arbeitsteilige Charakter von Forschungsprojekten zur Analyse großer Textcorpora.
Diesen methodologischen Unterschied kann Moretti mit einer ersten Grafik illustrieren. Das dort abgebildete Cover eines Buches von Matthew Jockers, einem seiner vormaligen Schüler, könne einen optischen Eindruck davon vermitteln, was hinter dem Konzept der Digital Humanities steckt. Jeder winzige Punkt in dieser Grafik stellt ein Buch dar. Aus diesen sehr kleinen Einheiten wird durch die neuen Methoden, die zwischen ihnen eine Vielzahl von Verbindungen stiften, ein großes Ganzes in Gestalt einer Cloud.
Vom Kleinen zum Großen zum Mittleren: dem Absatz
Genau diesen Übergang vom Kleinen zum Großen bezeichnet Moretti als typisch für die Arbeitsweise der Digital Humanities. Sie durchmesse den Mittelgrund zwischen kleinsten Einheiten und großen Mengen, statt beide voneinander zu trennen oder wie die Hermeneutik den Abstand vom Detail zum Ganzen zu überspringen.
Ein geeignetes Untersuchungsobjekt im Bereich dieser middle scale bildet für Moretti der Absatz als Untereinheit literarischer Texte. Zuerst betrachteten Moretti und sein Team den Absatz unter stilistischen Gesichtspunkten, aber bei diesem Ansatz gelangten die Rechner nicht zu aussagekräftigen Ergebnissen. Denn nicht der Stil verleihe den vier bis fünf Sätze langen Paragraphen deren Einheit, sondern die Themen – so die neue Hypothese.
Um sie zu erproben, wurde ein Verfahren der Digital Humanities, das topic modelling, eingesetzt. Diese Methode kann das Thema eines Korpus auf der Grundlage der verwendeten Wörter herausarbeiten. Wenn Absätze tatsächlich von ihrer thematischer Konsistenz dominiert werden, dann sollte dies im topic modelling sichtbar zu machen sein. Das betreffende Untersuchungsdesign anhand zweier Romane von George Eliot bzw. Anthony Trollope kann als beispielhaft für Morettis Arbeit und für die Vorgehensweise der digital humanities gelten.
Die Ergebnisse zeigen in der Visualisierung, dass die meisten Absätze der ausgewählten Romanbeispiele zwei bis vier Themen enthalten. Interessant wird es aber auch beim Inhalt der Paragraphen, die nur ein Thema haben: Diese fokussieren oft auf den Protagonisten und sind in einem ernsten Ton gehalten. Solche abweichenden Ergebnisse sind aus Morettis Sicht besonders faszinierend:
„There is, for me, always the temptation to run to extreme results because extreme results usually are always striking in one way or another. They tell you where the system begins to work and where it almost stops working.“
Satz – Stil, Absatz – Thema, Kapitel – Handlung
Hauptgegenstand der quantitativen Analyse großer Datenmengen (big data) ist jedoch der Bereich der häufigen Vorkommnisse. In Morettis Versuchsanordnung sind das die Absätze mit drei oder mehr Themen. Er gelangt zu dem Befund, dass in diesen Absätzen handlungstechnisch kaum etwas passiert. Dennoch werden dort die Erwartungen der Leser aufrechterhalten, weshalb polythematische Absätze dem Erzählfluss dienen. Erst auf der Ebene der Kapitel kommen die Handlungszüge selbst in den Blick.
Die Schlussfolgerung lautet: Auf der Ebene des Satzes zeigt sich der Stil, auf der Ebene des Absatzes kommt das Thema hinzu und auf der Ebene des Kapitels letztendlich die Handlung. Je höher die Skala geht, umso mehr wächst die Komplexität durch die Verknüpfung dieser drei Dimensionen.
Diskussion
Vom Publikum wurden Morettis Darlegungen teils zustimmend, überwiegend jedoch mit freundlicher Skepsis aufgenommen. Die Fragen bezogen sich dabei weniger auf die Ergebnisse als auf die Methode.
So wollte Prof. Thomas Weitin (Konstanz) wissen, inwieweit man bei solchen Untersuchungen die Software, mit der man arbeitet, verstehen muss. In Morettis Antwort wurden die Grenzen seiner Arbeitsweise deutlich. Er ist auf Mitarbeiter angewiesen, die programmieren können, und lagert die datentechnische Durchführung aus seinem eigenen Untersuchungsdesign aus. Dadurch gehen Momente des spielerischen Erkundens und Erfahrens mit den verwendeten Softwareprogrammen verloren.
Moretti appellierte an die jungen studentischen Zuhörer im Publikum, durch ihre kreative Vertrautheit mit Computertechnologien ganz andere und neue Vorgehensweisen zu entwickeln.
Vom sehr Kleinen bis zum ganz Großen
Pressemitteilung zur Veranstaltung