Martin Puchner (2018)
Weltliteratur – Die kuriose Geschichte einer deutsch-amerikanischen Idee
9. Juli 2018
Universität Konstanz, Senatssaal V 1001
„Nationalliteratur will jetzt nicht mehr viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.“
(Johann Wolfgang von Goethe)
Bericht
Von Anja Hartl
Mit seinem Vortrag zur Idee der Weltliteratur unternahm Martin Puchner, Byron and Anita Wien Professor of Drama and of English and Comparative Literature an der renommierten Harvard University, den Versuch, in politisch instabilen und vom Protektionismus geprägten Zeiten viele Brücken zu schlagen – zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen dem europäischen Kontinent und den Vereinigten Staaten von Amerika, zwischen Peripherie und Zentrum. Überzeugt von der Wirkungsmächtigkeit und Imaginationskraft von Literatur machte sich Puchner für einen Begriff der Weltliteratur stark, der im Zeitalter der Globalisierung Perspektiven zu eröffnen sowie neue Welten jenseits staatlicher, ökonomischer oder sozialer Grenzen zu erschaffen vermag.
Mit diesem Thema griff Puchner zentrale Fragen auf, die im Rahmen der von Aleida Assmann als Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz und Marcel Lepper vom Deutschen Literatur-Archiv Marbach 2009 ins Leben gerufenen Iser-Lecture diskutiert werden. In Erinnerung an den Anglisten und Literaturtheoretiker Wolfgang Iser widmet sich die Vorlesungsreihe dem Erbe der „Konstanzer Schule“ und erörtert im Dialog mit Isers Forschungsarbeit innovative Zugänge zur Literaturwissenschaft. Als ehemaliger Student Isers stellt Puchner ein besonderes Beispiel dafür dar, dass Konstanzer Ideen international weitergetragen werden, wie Christina Wald, Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft, einleitend bemerkte. Im Vordergrund der Vorträge der vergangenen Jahre standen insbesondere die Herausforderungen der Globalisierung für die Literaturwissenschaft. So fanden sich die von Rebecca L. Walkowitz 2017 angeführte Kritik am weit verbreiteten nationalen und einsprachigen Literaturmodell sowie ihre Forderung nach sprachübergreifender Kollaboration in gewisser Weise in Puchners Forderung nach einem Umdenken des Gegenstands der Literaturwissenschaft wieder und wurden weitergedacht.
Doch was meint der Begriff „Weltliteratur“ eigentlich? Handelt es sich lediglich um einen universalistischen Terminus, der die Summe aller Texte beschreibt? Wer entscheidet darüber, was (Welt-)Literatur ist und was nicht? Welche Kriterien werden hierbei angewandt? Puchner setzte sich mit diesen Fragen auseinander, indem er vom Ursprung der Idee der Weltliteratur ausging und ihre Geschichte skizzierte, um zu einem fundierten Verständnis zu gelangen. So ist es Johann Wolfgang von Goethe, der sich des Begriffs zum ersten Mal bediente und richtungsweisende Charakteristika benannte, die auf die weitere Entwicklung der Literatur, ihrer Produktion, ihres Vertriebs sowie ihrer Rezeption vorausdeuten sollten. In klarer Abgrenzung zur „Nationalliteratur“ deklarierte Goethe aus dem provinziellen Weimar heraus im Jahr 1827 programmatisch das Kommen einer Weltliteratur, das der Literatur – verstanden als besonders wirkungsmächtige Texte – zu globaler statt nationaler Bedeutung und Größe verhelfen sollte. Damit war sie eng geknüpft an die zur damaligen Zeit einsetzende Entstehung eines Weltmarktes – insbesondere als Folge des europäischen Kolonialismus – sowie an die zunehmende Verbreitung der Übersetzungspraxis.
Diese von Goethe geprägte Vorstellung von Weltliteratur wurde dann, wie Puchner nachzeichnete, von Karl Marx und Friedrich Engels im Manifest der Kommunistischen Partei (1848) weitergedacht, die ein kosmopolitisches Verständnis von Literatur jenseits der Grenzen des Nationalstaats propagierten. In seinem expliziten Anliegen, die Welt durch die Erzählung der Geschichte des Klassenkampfes zu verändern, begründete Marx‘ und Engels‘ Werk zugleich das Manifest als neues Genre der Weltliteratur, wie Puchner in seiner Monographie Poetry of the Revolution: Marx, Manifestos, and the Avant Gardes (2005) argumentiert.
Am Beispiel von Leo Spitzer und insbesondere Erich Auerbachs Überlegungen zur Weltliteratur während des Zweiten Weltkriegs im zunächst türkischen, später amerikanischen Exil machte Puchner deutlich, wie diese Ideen schließlich in den USA auf fruchtbaren Boden fielen. In Amerika begünstigt das Schul- und Universitätssystem mit seinem universalistischen Ansatz und der Bedeutung, die dem Studium generale beigemessen wird, ein Verständnis von Literatur als Weltliteratur, was sich auch in Puchners Arbeiten als Herausgeber der Norton Anthology of World Literature niederschlägt.
In der anschließenden lebhaften Diskussion wurde deutlich, welche Herausforderungen und welches Potential Weltliteratur bietet und wie sehr sie an die grundlegenden Fragen des Fachgebiets anknüpft: Lebt Weltliteratur tatsächlich von Differenz, wie es Goethe vorschwebte, oder führt ihre Verbreitung nicht eher zu einer Homogenisierung? Was fällt unter Weltliteratur und müsste man nicht von Weltliteraturen sprechen, um der Vielschichtigkeit sowie der subjektiven und kontextgebundenden Natur der Rezeptionsprozesse gerecht zu werden? Tragen Weltliteratur und entsprechende Anthologien zur Verfestigung des Kanons bei und wie kann hegemonischen und einseitigen Tendenzen hierbei aktiv begegnet werden, um vergessenen oder peripheren Stimmen Geltung zu verschaffen? Welche Wertvorstellungen stecken hinter diesem Begriff? Die Beiträge zur Iser-Lecture, insbesondere von Walkowitz und Puchner, zeigen: Globalisierung und damit einhergehende weitreichende politische und soziale Veränderungen im 21. Jahrhundert erfordern ein radikales Umdenken der Literaturwissenschaft als Fach und der Literatur als ihrem Untersuchungsgegenstand – Fragen, die reichhaltigen Stoff für Auseinandersetzung bieten und das Feld auch in Zukunft weiter beschäftigen werden.
Eine transatlantische Erfolgsgeschichte
Pressemitteilung zur Veranstaltung