Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Etablierte Provisorien

Flüchtlingsnotunterkünfte in Leipzig

Ein Lagebericht von Philipp Schäfer

Über Nacht hat das Land Sachsen entschieden, eine Leipziger Turnhalle in ein behelfsmäßiges Erstaufnahmelager umzuwandeln. Wo sonst Studierende Sport treiben, leben nun Flüchtlinge. Die Entrüstung ist groß, doch ebenso groß ist die Hilfsbereitschaft der Stadtgesellschaft.

Foto: Franziska Barth/Kreuzer

„Was für ein schreckliches Bild“

Ein Bild erregt die Gemüter. Dicht an dicht gedrängt stehen sie, im Abstand von einem halben Meter: Feldbetten für über 450 Flüchtlinge in der Leipziger Ernst-Grube-Halle. Die Nachricht von der Entscheidung des Freistaates Sachsen, auf dem historischen Gelände der sportwissenschaftlichen Fakultät der Universität ein notdürftiges Erstaufnahmelager zu errichten, verbreiten die lokalen Medien am Dienstag, den 11. August 2015.

Das Technische Hilfswerk richtet die Halle notdürftig ein, wenige Tage später sollen die ersten Flüchtlinge einziehen. Auf einer Informationsveranstaltung der Studierendenvertretung berichtet Bernd von Bieler, Mitglied des Landesvorstandes der Johanniter in Sachsen über das Feldbettlager: „Was das für ein schreckliches Bild war. Viele [der Johanniter-Mitarbeiter] haben gesagt, das ist ja ganz unmöglich.“

Kurzfristig übernehmen die Johanniter die Betreuung vor Ort – bis dato ehrenamtlich. Erschöpft und übermüdet beziehen die ersten Flüchtlinge in der Nacht zum Samstag um 2:10 Uhr ihre Feldbetten, noch eine Suppe auf den Knien, weil es für Tische keinen Platz in der Halle gibt. Man lebe „sehr beengt“, informiert von Bieler. Rückzugsräume seien kaum vorhanden – nur im Gebetszelt und im Familienzelt könnten die Menschen kurz zur Ruhe finden. „Aber es funktioniert trotzdem, es geht.“

Unterstützt wird die Hilfsorganisation vom Leipziger Flüchtlingsrat. Dessen Vorsitzende Sonja Brogiato, die um die Ausnahmesituation für alle Beteiligten weiß, betont die missliche Lage der ersten ankommenden Flüchtlinge. Einige Tränen habe man beim Betreten der Halle trocknen müssen, berichtet sie und fügt hinzu, das solle nicht pathetisch klingen, sondern entspreche der Realität.

Außenansicht der Ernst-Grube-Halle Leipzig. Foto: Philipp Schäfer

Wie lange ihr Einsatz dauern wird, wissen Brogiato und von Bieler nicht. Der nahende Semesterbeginn verlangt rasche Alternativlösungen. Andererseits bleibt abzuwarten, ob die Landesregierung auf der Suche nach wetterfesten Unterkünften für die Herbst- und Wintermonate – immer noch beherbergen die Zeltstädte in Dresden und Chemnitz mehrere Hundert Flüchtlinge – auch in Zukunft vermehrt auf Hallen als Flüchtlingsunterkünfte zurückgreifen wird. Wenige Tage nach dem Bezug der Ernst-Grube-Halle wird bekannt: Der Freistaat Sachsen lässt eine zweite Turnhalle in der Stadt für die Nutzung als Notunterkunft herrichten. Über Nacht kommen die ersten Flüchtlinge. Von der Interims- zur Dauerlösung also?

Sächsische Verhältnisse

Der Freistaat durchlebt eine tiefe politische Krise. Nicht nur gelang es ihm nicht, sich vom signifikanten Verlust an Reputation durch die rechtspopulistischen Proteste von Pegida und Co. zu erholen. Auch an der Aufgabe der menschenwürdigen Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen scheint er zu scheitern. Ministerpräsident Stanislaw Tillich und sein Innenminister Markus Ulbig fordern wahlweise mehr Polizeipräsenz gegen straffällig gewordene Flüchtlinge, ein härteres Vorgehen bei „Asylmissbrauch“ oder die schnellere Abschiebung von Asylsuchenden aus den Westbalkanstaaten. Auch der eilig einberufene Krisenstab sowie die geäußerte Bestürzung der Integrationsministerin Petra Köpping über die sächsischen Zustände können den Eindruck nicht widerlegen, dass die Krise hausgemacht ist.

Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung kritisiert in einer Stellungnahme zur Flüchtlingsunterkunft in der Ernst-Grube-Halle die Asylpolitik des Freistaats:

„Ich mache kein Hehl daraus, dass ich die Unterbringung von Menschen in einer Turnhalle für ungeeignet halte. Mehr als 400 Frauen, Männer und Kinder in der Ernst-Grube-Halle in Leipzig unterzubringen, mag in einer Notsituation für kurze Zeit hinnehmbar sein. Eine Lösung für Monate ist es sicher nicht.“ (leipzig.de, 19.8.2015)

Auch Daniel Bergelt vom „Initiativkreis: Menschen.Würdig“ verurteilt das Vorgehen der Landesregierung. Der ausgerufene Notstand, der zur Errichtung der Unterkunft auf dem Sportcampus der Universität Leipzig geführt habe, wecke Erinnerungen an klassische Katastrophenszenarien. Aber „es gibt leerstehende Alternativobjekte in Leipzig, die sich in Landesbesitz befinden. Das Signal ist ein deutliches: Ihr seid hier nicht willkommen.“ Das Schweigen der Landesregierung lässt den Schluss zu, dass die hier produzierten Bilder politisch gewollt sind und für sich sprechen sollen. Die „Das Boot ist voll“-Metaphorik beschreibt einen Zustand der Überlastung, in dem eine restriktive Politik gegen Flüchtlinge vertretbar, gar unumgänglich erscheint.

Flüchtlinge an der Ernst-Grube-Halle Leipzig
Foto: Philipp Schäfer

500 Willkommenspakete

Dem gegenüber steht die enorme Hilfsbereitschaft, die mit der Nachricht über die Eröffnung der Erstaufnahmeeinrichtung einsetzte. Spontan schnürten Leipziger viele hunderte Willkommenspakete für die Ankommenden: Hygieneartikel, eine Packung Kekse sowie eine Begrüßungsbotschaft. Zur Eröffnung der Unterkunft kamen zahlreiche Menschen mit Kleider- und Möbelspenden, gar ein Fernseher sei unter dem Mitgebrachten gewesen, so von Bieler. Hauptaufgabe des Flüchtlingsrats und der Johanniter sei es daher im Moment, die schiere Masse an Hilfsangeboten und -anfragen zu koordinieren. Arbeitsgruppen von Freiwilligen, die sich ad hoc im Rahmen der Informationsveranstaltung bildeten, bemühen sich gerade um die Organisation eines Freizeit- und Kulturprogramms und die Vorbereitung von Sprachkursen für die Flüchtlinge.

Doch wäre es nicht auch die Verantwortung der Politik, die Flüchtlinge in Sachsen willkommen zu heißen? Die jüngsten Ereignisse scheinen zu bestätigen, dass man dies vorerst den Ehrenamtlichen überlässt. Sie machen ebenso deutlich, dass Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen vor Ort von einer Vielzahl von Akteuren verhandelt werden. Die Debatte, wer legitime Flüchtlinge sind und welche Rechte ihnen zugestanden werden sollen, wird auch abseits der Gerichtssäle und Parlamente immer wieder neu geführt – auch unter Mitwirkung der Flüchtlinge selbst. Aufgabe der Forschung ist es, diese Aushandlungsprozesse in ihren sozialen Herstellungsprozessen zu betrachten.

Seit Ende Juli ist Philipp Schäfer in Leipzig, um Feldforschung für seine Dissertation zum Thema „Doing Asylum und die (Ko-)Produktion von Flucht und Flüchtlingen in städtischen Migrationsregimen“ zu betreiben. Am Beispiel der Städte Leipzig und Lyon untersucht er die Dynamik der Flüchtlings- und Asylproblematik im Raumgefüge von Städten. Philipp Schäfer promoviert im Doktorandenkolleg „Europa in der globalisierten Welt“ und ist Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes.

Weitere Informationen

Freie Radios: Rohmitschnitt der Pressekonferenz in der Ernst-Gruber-Halle Leipzig zur Nutzung als Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete (14.8.2015)

MDR: Leipziger Erns-Grube-Halle wird Flüchtlingsunterkunft (14.8.2015)

Kreuzer: Willkommen in Sachsen (14.8.2015)

Leipziger Volkszeitung: Ehrenamtler im Flüchtlingsasyl Grube-Halle brauchen Unterstützung (16.8.2015)

Initiativkreis: Menschen.Würdig. Kampagne für menschenwürdiges Leben und Wohnen auch für Asylsuchende