Helden an der Wand – oder wie Dinge die Gesellschaft dekodieren
Der Mensch, abgelichtet inmitten seiner Dingwelt
Einer der erste Fotografen, die Fotoserien erstellten, war der Brite John Dillwyn Llewelyn, der Ende des 19. Jahrhunderts seine Familie und all sein Hab und Gut ablichtete. Er lehrt uns heutige Betrachter/innen: Will man die Menschen verstehen, muss man zuerst auf ihre Dinge schauen. Und so spannt Stiegler den Bogen weiter über die berühmten Berufsbilder August Sanders, die „Gesichter der Macht“ von Herlinde Koelbl, die Variete-Tänzerinnen von Katharina Bosse und die Hyänenmenschen des Pieter Hugo. Eindrücklich auch die albanischen Mannfrauen (Sworn Virgins) von Pepa Hristova. Zuletzt dann – und an diesem Abend zentral – Jan Bannings Bürokraten.
Was all diese Porträts von jenen der Berufsfotografen unterscheide, sei der vergleichende Blick des Künstlers oder der Künstlerin. Hier der Mensch, abgelichtet mit soziologischem Blick inmitten seiner Dingwelt, dort die bloße Reproduktion gesellschaftlicher Rollenbilder, umgeben von Studio-Staffage. Hier wie da bringen sich die Dargestellten in Pose, so dass wir uns fragen müssen: Was ist authentisch, was der Anwesenheit des Fotografen geschuldet?
Objekte sprechen mehr zu uns als die Person selbst
Gerade Herlinde Koelbls Politikerporträts zeigen, dass wir in ihnen immer mehr wahrnehmen, als wir auf den Fotos sehen können. Erst der Kontext und unsere Erfahrung erschließen den gesellschaftlichen Raum, der sie umgibt.
Bernd Stiegler sieht in den von Jan Banning präsentierten Büros stark überdeterminierte Räume. Dazu würden sie vor allem durch die Dinge in ihnen – mal Myriaden unsortierter Akten, mal der gänzlich leere Schreibtisch. Diese Objekte, mit denen die Porträtierten sich umgeben, sprächen dabei oft mehr zu uns als die Person selbst.
Der Staatsdiener ist bei Banning, so Stiegler, mehr als er selbst, er ist Teil des ihn umgebenden Gesellschaftsraumes. Dies veranschaulichten vor allem die Bilder von Staatsmännern und Helden an den Wänden der Büros. Durch sie werde jedes der Porträts gleichsam zu einem Doppelporträt. Erst die Dinge, mit denen sich die Bürokraten umgeben, insbesondere diese Bilder von Gandhi, Bolivar und Putin, lassen uns den Gesellschaftsraum Büro entschlüsseln. Sie sprechen zu uns, während andere Dinge stumm bleiben. So bleibt das fremde Büro auch ein Gesellschaftsraum voller Rätsel.
„[Das Papier in diesen Räumen] wird uns […] und auch die Staatsdiener überleben und dereinst, wie auch die fotografischen Bilder, als materialisierte Form der Geschichte zu studieren sein.“
Prof. Dr. Bernd Stiegler lehrt Neuere Deutsche Literatur mit Schwerpunkt Literatur des 20. Jahrhunderts im medialen Kontext an der Universität Konstanz. Er forscht zur Fotogeschichte und -theorie. Demnächst erscheint „Spuren, Elfen und andere Erscheinungen. Conan Doyle und die Fotografie“ (Fischer).
Weitere Vorträge zum Thema der Ausstellung:
- 4. Juni 2014: Herrschaften des Büros. Die Geburt der Bürokratie aus dem Geist der Aktenführung. Stefan Nellen
- 18. Juni 2014: Gott und Gold. Die religiösen Ursprünge der neuen Bürokratie. Christoph Bartmann
Die Veranstaltungen beginnen jeweils um 19 Uhr im Kulturzentrum am Münster (BildungsTURM bzw. Wolkensteinsaal).
Informationen
Die Ausstellung „Bureaucratics“ ist noch bis 29. Juni 2014 zu sehen.
BildungsTurm im Kulturzentrum am Münster, Konstanz.
Geöffnet Di–Fr 10–18 Uhr, Sa–So 10–17 Uhr.