Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Unterwegs, unser Glück zu suchen

Fortsetzung, 3. Seite (Schluss)

Zu Gentlemenganoven und Freiheitsrebellen verklärt

Frontinspiz zu "General History of the Robberies and Murders of the most notorious Pyrates"
Frontinspiz zu "General History of the Robberies and Murders of the most notorious Pyrates", 1724

Mit den somalischen Meeresbriganten könnte in nicht allzu ferner Zeit ähnliches geschehen, was seinerzeit den Teilnehmern der „Piratenrunde“ widerfuhr. Denn schon bald wurden aus den plündernden und raubenden Schurken edle Seeräuber. In Captain Charles Johnsons „General History of the Robberies and Murders of the most notorious Pyrates“ (1724) erhielten sie teilweise Züge von mutigen und anständigen Gentlemenganoven. Auf diesen ersten populären Bestseller zur Piraterie, dessen Autorschaft manche Forscher Daniel Defoe zuschreiben, griff auch Robert Louis Stevenson zurück, dessen Roman „Treasure Island“ (1881/82) die Zeit der „Piratenrunde“ endgültig zum Goldenen Zeitalter der Piraterie verklärte.

Ein zweites Mal glorifiziert wurden Tew, Avery, Kidd und Co., wenn auch auf ganz andere Weise, als Historiker wie Christopher Hill und Marcus Rediker sie zu Freiheitsrebellen und protokommunistischen Radikaldemokraten erhoben. In Anlehnung an Eric Hobsbawms Begriff vom „Sozialbanditen“ wurde dabei vor allem auf den sagenumwobenen Piratenkodex verwiesen, der die Seeräuberfregatte in eine schwimmende Demokratie verwandelt habe. Ob aus politischem Sendungsbewusstsein oder ökonomischer Effizienz, wie dagegen der Wirtschaftshistoriker Peter T. Leeson behauptet, mag dahingestellt sein.

Ein solcher Kodex, auf den sich auch Jack Sparrow (Verzeihung, Captain Jack Sparrow) bezieht, scheint indes nicht nur eine Hollywood-Fantasie zu sein. Hinweise darauf finden sich in der Tat in den Gerichtsunterlagen zu einigen historischen Piratenprozessen. So etwa in den Verhörprotokollen zum Verfahren gegen die Mannschaft des berüchtigten Bartholomew Roberts aus dem Jahr 1722. Wie stark auch immer die Teilnehmer der „Piratenrunde“ von Freiheitsvorstellungen motiviert gewesen sein mochten, ihre spätere Rechtfertigung vor Gericht, sie seien auf Roberts Schiffen gegen ihren Willen zur Seeräuberei gezwungen worden, macht deutlich, dass zumindest kaum einer von ihnen bereit war, für seine Ideale zu sterben.

Der maritime Robin Hood des 21. Jahrhunderts?

Möglicherweise wird es nicht lange dauern, bis die heutigen Seeräuber Ostafrikas auf ähnliche Weise heroisiert werden, etwa wenn globalisierungskritische Gruppen im Somaliapiraten den maritimen Robin Hood des 21. Jahrhunderts entdecken sollten. Einen Funken klammheimlicher Freude könnte man ihnen jedoch kaum verwehren – angesichts der Tatsache, dass eine Handvoll Entschlossener mit kleinen Motorbooten heutzutage in der Lage sein kann, Supertanker aufzubringen und den Rest der Welt an der Nase herumzuführen. Eine „goldene“ Zukunft scheinen die Betroffenen indes nicht erwarten zu dürfen, wenn demnächst große internationale Marineverbände im derzeitigen Hot Spot Nr. 1 der Hochseepiraterie aufkreuzen.

Ein „goldenes“ Ende wie bei Henry Everys Beutefahrt war jedenfalls nur den wenigsten Raubzügen der „Roundsmen“ vergönnt. Die meisten von ihnen starben an Krankheiten, im Gefecht, am Galgen oder verschwanden im Dickicht der Insel Madagaskar, wo sie ein ärmliches Dasein fristeten. Oder sie endeten wie der deutsche Pirat Richard Sievers im Herbst 1700 in einer dunklen und feuchten Zelle in Bombay. Das Goldene Zeitalter der Piraterie wird sich also nicht wiederholen, weil es als solches nie existiert hat.

Michael Kempe

Dr. Michael Kempe forschte im Exzellenzcluster zu „Fluch der Meere. Piraterie, Völkerrecht und Internationale Beziehungen in der frühen Neuzeit (16.-19. Jh.)“.

Der Artikel erschien zuerst in einer gekürzten Fassung in der Neuen Zürcher Zeitung vom 15. Dezember 2008. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.