„Unterwegs, unser Glück zu suchen“, ließ Henry Every trotzig und selbstbewusst im Februar 1695 der englischen Ostindien-Kompanie verkünden, nachdem er als Anführer einer Meuterei das englische Kaperschiff „Charles II“ in seine Gewalt gebracht hatte. Gesagt, getan. Kurz darauf stach er mit 150 Mann und 46 Kanonen in See, um am Horn von Afrika auf Beutejagd zu gehen.
Genau am selben Ort ihr Glück zu machen, danach streben wenig mehr als dreihundert Jahre später neue Piraten, die nicht weniger dreist und frech auftreten als ihre frühneuzeitlichen Vorgänger. Angesichts der dramatischen Zunahme der Raubüberfälle an der ostafrikanischen Küste sprechen viele mittlerweile von einer Renaissance der historischen Freibeuter, von der Rückkehr eines verklärten Verbrechertyps aus den Geschichtsbüchern.
Tatsächlich mehren sich Hinweise, dass eine ähnlich ernsthafte Bedrohung des Welthandels bevorstehen könnte, wie sie zwischen 1680 und 1730, dem sogenannten Goldenen Zeitalter der Piraterie, schon einmal existierte. Kehren also ruchlose und zu allem entschlossene Schurken wie Henry Every, William Kidd oder Blackbeard in Gestalt somalischer Piraten zurück auf die Weltbühne?
Geiseln, Gold und Geschmeide
Ein Somaliapirat mit Vorliebe für Geschichte würde nur milde lächeln über das Ausmaß der heutigen Gewalt im Vergleich zu den Raubzügen eines Henry Every, so konnte man es kürzlich im „Guardian“ lesen. In der Tat gingen Every und seine Spießgesellen nicht gerade zimperlich vor. Am Zugang zum Roten Meer lauerten Everys Raubschiffe der indischen Pilger- und Handelsflotte auf dem Weg nach Surat auf. In die Hände fiel ihnen im September 1695 die „Gang-i-Sawai“, ein reich beladenes Schiff des indischen Großmoguls Awrangzeb mit einer atemberaubenden Beute: über 500.000 Gold- und Silbermünzen, zahlreiche Truhen mit Edelsteinen sowie ein mit Rubinen besetztes und mit Gold verziertes Sattel- und Zaumzeug, eigentlich gedacht als Geschenk für den Großmogul.
Der Gesamtwert des Erbeuteten kann sich durchaus messen lassen mit den zwei Millionen Barrel Rohöl im Wert von 80 Millionen Euro, die sich auf der neulich gekaperten „Sirius Star“ befinden. Während jedoch die puntländischen Motorbootpiraten die Besatzungsmitglieder des saudischen Supertankers am Leben ließen und als Geisel nahmen, wüteten Everys Männer mehre Tage an Deck des indischen Schiffes. Dort richteten sie ein Blutbad an und vergewaltigten mehrfach die an Bord befindlichen muslimischen Frauen, unter ihnen ranghohe Adelige, die von einer Pilgerfahrt nach Mekka zurückkehrten. Einige der überlebenden Frauen begingen später Selbstmord.
Europäische Piraten im Roten Meer
Rasch lassen sich weitere Unterschiede zwischen den damaligen und gegenwärtigen Raubfahrern am Horn von Afrika benennen. Entlang der einst wie heute meist befahrenen Routen des weltweiten Seehandels trieben um 1700 nicht indigene Räuberbanden ihr Unwesen, sondern Europäer, die als Emigranten in die Karibik gelangten waren und von dort aus um Afrika herum in den Indischen Ozean auf Raubfahrt gingen. Als Nachrichten von sagenhaften Schätzen, die Thomas Tew und Every dort erbeutet hatten, nach Westindien drangen, folgten dem Lockruf des Goldes bald scharenweise junge Seemänner. Gepackt vom Rotmeerfieber, brachen sie in Richtung Ostindien auf. An der Wende zum 18. Jahrhundert tummelten sich, so der Historiker Arne Bialuschewski, bis zu 1500 Beutefahrern zwischen Vorderindien und der Arabischen Halbinsel und kaperten alles, was ihnen dort vor den Bug kam.
Im Unterschied aber zu den Somaliapiraten brachten sie ihre Beute nicht an die ostafrikanische Küste, sondern tauschten sie auf Madagaskar bei amerikanischen Händlern gegen Waffen, Kleidung und Rum. Umgeladen auf andere Schiffe, gelangten die geraubten Güter und Sklaven von dort aus in die Kolonien Westindiens und Nordamerikas. Auf diese Weise etablierten die um Afrika herum pendelnden Schmuggler und Piraten bis 1725 einen regen Schleichhandel zwischen Amerika und Indien. Während die heutige Piraterie im Roten Meer eher regional ausgerichtet ist, obgleich mit weitreichenden Verbindungen ins afrikanische Hinterland, bildete sich mit der „Piratenrunde“ ein global vernetztes Seeraubphänomen aus, das von Neufundland bis ins Südchinesische Meer reichte und auf lange Sicht – gewissermaßen auf der Schattenseite ökonomischer Globalisierungsprozesse – zur Bildung eines indo-atlantischen Wirtschaftsraumes entscheidend mit beitrug.