Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Autokratische Sprachmacht und dissidentische Zahlenpoetik in der Epoche Katharina II

Anastasiya Kokina

Teilprojekt des Forschungsprojektes „Buchstaben, Ziffern und Kalkulationen der Macht“ mit Prof. Dr. Jurij Murašov und Elena Fedotova

Abstract

Mit dem auf Initiative von Katharina 1769 erlassenen Dekret zur Privatisierung des Druckwesens setzt in Russland die Ökonomisierung der Typographie und des Zeitschriftenwesens ein. Dies verändert grundlegend die Literatur sowohl in institutioneller und sozial-struktureller Hinsicht als auch im Hinblick auf ihre textuelle und poetologische Verfasstheit. Dies bedeutet das Ende der (am Modell der mündlichen Anwesenheitskommunikation orientierten) Hofdichtung und Beginn einer sich zunehmend ihrer eigenen Schriftverfasstheit bewusst werdenden literarischen Produktion. Besonders deutlich zeigt sich das in den nun populär werdenden kleinen, meist satirischen Prosaformen, in den mitunter graphomanisch ausufernden Selbst- und Lebensbeschreibungen und in den Komödien.

Bei diesem Prozess der ästhetischen Autonomisierung und Selbstversicherung von Literatur kommt dem Bezug auf naturwissenschaftliche und -rechtliche Sujets, vor allem aber auf die Mathematik eine konstitutive Funktion zu. In prominenten Prosatexten der Epoche ist eine Lust am Quantifizieren, an formalen Kalkülen und an Zahlen und Ziffern zu beobachten, die auf der Textebene selbst als Durchmischung von (verbalsprachlichen) Buchstaben mit Zahlen, Ziffern und algebraischen Ausdrücken extensiv inszeniert wird.

Die These des Teilprojekts besteht darin, dass sich diese Buchstaben-Zahlen-Texte mit ihren spezifischen gebrochenen, antinarrativen Strukturen als signifikant für antiautokratisch eingestellte, dissidentische Milieus identifizieren lassen, zu denen prominente, von Katharina verbannte Autoren wie Novikov oder Radišcev, einzelne Zeitschriften wie z. B. die von N. Ruban herausgegebene Ni to ni se oder weltanschauliche Formationen wie die Freimaurer zählen. Davon ausgehend lässt sich diese Inanspruchnahme der Abstraktions- und Formalisierungskraft von Ziffern und Zahlen als eine semantische Entlastung und Entkopplung von der sprachlich verfestigten und durch die Hofdichtung bis in die 1760er Jahre bestärkten, ideologisch-politischen Fixierung auf das autokratische Machtzentrum untersuchen. Eben auf eine solche semantische Entlastung und institutionelle Entkopplung zielen die Zahlen-Buchstaben-Texte wie z. B. das „Lob der Null“ in Form einer Ode:

Нули хоть суть ничто; наук уж число кто знает,
Тот пользу и нулей довольно понимает.
0000000000000000000000

(Das Wesen der Null ist zwar das Nichts, doch wer die Zahlenwissenschaft kennt,
der wird auch der Nullen Nutzen gut verstehen.
0000000000000000000000)
(Ni to ni se 1/1769, 6 f.)

Diese These wird im Teilprojekt insofern einer Gegenprobe unterzogen, als kontrastiv zu der Sichtung und Analyse von Ziffer/Buchstaben-Texten, an ausgewählten Beispielen jene Literatur in den Blick genommen werden soll, die von Katharinas Bildungspolitik propagiert, durch offiziöse, von der zaristischen Administration finanzierte Zeitschriften verbreitet bzw. die von der Zarin selbst verfasst worden ist. Diese Literatur kultiviert geschlossene Narrative und meidet dabei nicht nur konsequent Zahlen und Ziffern, sondern polemisiert mitunter heftig gegen die verderbten Abstraktions- und Quantifizierungstendenzen.

Diese These hat gleichzeitig auch eine diachrone Pointe, indem sie auf die ideologischen Auseinandersetzungen zwischen den „Physikern und Dichtern“ in den sowjetischen 1960er Jahren verweist, was im Projekt Buchstaben und Ziffern bearbeitet wird.