Von der poetischen Magie der Ziffern zur sowjetischen qualitativen Statistik der 1930er Jahre
Elena Fedotova
Teilprojekt des Forschungsprojektes „Buchstaben, Ziffern und Kalkulationen der Macht“ mit Prof. Dr. Jurij Murašov und Anastasiya Kokina
Abstract
Die russische, politische und soziale Revolution von 1917 ist wesentlich verbunden mit einem Vordringen und einer Expansion der neuen, „revolutionären“ elektrischen Medien ‒ Fernschreiber, Radio, Film. Dieser Zusammenhang wird in den Selbstdarstellungen in den nachrevolutionären Jahren immer wieder herausgestellt. Entsprechend reagiert auch die Literatur nicht nur auf das politisch-historische Ereignis und auf die mit der Revolution verbundenen ideologischen Ansprüche und Erwartungen, sondern ebenfalls auf die veränderte Mediensituation, indem sie ihre eigene Schriftverfasstheit im Horizont der neuen medialen Möglichkeiten reflektiert. Gleichzeitig damit vollzieht sich eine Neubestimmung des Verhältnisses der Literatur zu den Wissenschaften, das gekennzeichnet ist von einem Rückgang motivischer und narrativer Referenzen auf disziplinäre Wissensformen (wie im russischen Realismus des 19. Jh.) zugunsten einer forcierten Bezugnahme auf die Mathematik. Das markanteste Beispiel stellen Velimir Chlebnikovs poetische Berechnungen des Revolutionsjahres in seiner „Welt der Ziffern“ nach der Formel „X=K+48n“ dar. Chlebnikov ist auch ein Beispiel dafür, wie die Begeisterung für neue Medien (vgl. das Manifest „Radio der Zukunft“, 1921) die Überwindung der natürlichen, literarisch-schriftlichen Sprache in Richtung auf einen sprachmagischen Umgang mit Ziffern, Zahlen und Zahlwörtern hervorbringt. Zur avantgardistischen Poetik der Zahlen und ihren philosophischen und poetologischen Kontexten liegen ausführliche Forschungen vor.
Das Teilprojekt nimmt den Übergang von der Avantgarde zur sowjetischen Massenkultur in den Blick, bei dem sich eine eigentümliche Kontinuität im Umgang mit Ziffern und Zahlen feststellen lässt. Die These besteht darin, dass die avantgardistische Poetisierung der Mathematik zum einen parallel zu der allmählichen politisch-ideologischen Vereinnahmung der Literatur verläuft und zum anderen auch deren von Zahlen und Ziffern dominierte Sujets und Narrationen präfiguriert. Das Projekt untersucht dieses Eindringen von Ziffern und Zahlen und die sich daraus ergebenden textlichen und poetischen Strukturen sowie pragmatischen Dimension in einem der zentralen Genres des sozialistischen Realismus ‒ im Produktionsroman der ausgehenden 1920er und 1930er Jahre. Im Unterschied zu den dissidentischen Milieus der Katharinischen Epoche werden nun nicht die Abstraktionseffekte von Zahl und Ziffer im Text für die Entkopplung vom politischen Machtdiskurs aktiviert. Im Gegenteil: Die aus der Avantgardepoetik resultierende Poetisierung von Ziffern und Zahlen, die in den Narrativen des Produktionsromans ausfabuliert wird, stellt jenes Modell bereit, durch das in den 30er Jahren die Wissenschaften magisch auf Wunder hin disponiert werden (vgl. dazu in der Physiologie Ivan Pavlov, in der Biologie/Genetik Ivan Mičurin, in der Sprachwissenschaft Nikolaj Marr). In der sowjetisch präparierten Wissenschaft wird nun ein „qualitivatives“, semantisches Verständnis von Mathematik (resp. von Statistik) elaboriert. Im Unterschied zur Katharinischen Epoche, die eine universale Mathematik kannte, zerfällt diese Disziplin in der sowjetischen Kultur in zwei von einander wesentlich geschiedene Mathematiken ‒ eine sowjetische „qualitative“ und eine quantitative „bourgeoise“ Mathematik.