Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

„[S]o real die Klasse ist, so sehr ist sie selber schon Ideologie“ (Adorno)

Zur kulturellen Verfasstheit einer basalen Kategorie der Gesellschaft

Dr. Eva Blome, Dr. Patrick Eiden-Offe, Prof. Dr. Manfred Weinberg

Abstract

1968 hat Theodor W. Adorno in seinen „Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute“ im Verweis auf den amerikanischen Soziologen Lewis A. Coser formuliert, dass soziale Konflikte „nicht als dysfunktional und für das soziale System desintegrativ, nicht ausschließlich unter dem Aspekt ihrer Anomalie, sondern als Motoren zu betrachten [seien], die für die ‚Erhaltung, Angleichung oder Anpassung der sozialen Beziehungen und der sozialen Strukturen’ sorgten“. Wenn der Begriff Klasse einsteht für die Spaltung der Gesellschaft in antagonistische Gruppen auf Grund ihrer sozio-ökonomischen Positionierung, dann lässt sich der Zusammenhang von Klasse und sozialer Integration kaum knapper fassen.

Gleichzeitig bleibt in jeder Theorie, die den Begriff Klasse an zentraler Stelle einsetzt, unklar, wie und durch welche Wissenschaft er sich adäquat bestimmen lässt. Adornos doppelte Diagnose der Klasse als ebenso „real“ wie „ideologisch“ wird in den drei Teilprojekten dieser Forschungsinitiative ernst genommen und kulturtheoretisch weitergeführt. Klasse, so soll gezeigt werden, ist ein Begriff, der notwendig kulturell („ideologisch“) verfertigt ist, und (nur) so seine „reale“ integrative Ordnungsleistung vollbringen kann. Dass die Kategorie der Klasse das Versprechen birgt, theoretischen Zugang zu den „harten“ Basis-Mechanismen der Gesellschaft zu verschaffen, hat historisch von vornherein das Verständnis dafür verstellt, dass der Begriff selbst ohne Hinzuziehung „weicher“, gleichwohl fundamentaler kultureller Aspekte nicht zu fassen ist. Da der kulturelle Status des Begriffs nicht aufgeklärt wurde, wurde die Kategorie Klasse nicht zuletzt in den Literatur- und Kulturwissenschaften weitgehend fallen gelassen.

Hier liegt der theorie-strategische Einsatz unserer Projekte: Es geht uns gerade nicht um eine umstandslose Reetablierung der Kategorie Klasse, sondern um eine theoretisch haltbare Vermessung und Neubesetzung jener offenen Stellen, die etwa auch die neuen Klassenbegriffe wie „Prekariat“, „intellektuelles Proletariat“ und „Unterschicht“ anzeigen. Dabei wird eine neue Konvergenz von kulturwissenschaftlichen und soziologischen Forschungen sichtbar. Durch diesen Einsatz der Projekte wird auch die Vagheit gegenwärtiger Debatten auf eine gesicherte kulturelle Grundlage zurückgeführt.

Eva Blome: Klasse und Bildung. Zur narrativen Formierung sozialer Dynamik

Ausgehend von der Beobachtung, dass in der modernen Wissensgesellschaft soziale Ungleichheit zunehmend auf einen ungleichen Zugang zu Bildungsressourcen zurückgeführt wird, untersucht das Projekt die diskursiven und narrativen Grundlagen des Zusammenspiels der kulturellen Konzepte „Bildung“ und Klasse seit der Goethezeit. Dabei soll die zugleich integrative wie desintegrative Kraft von „Bildung“ akzentuiert werden, insofern diese sich sowohl auf den Prozess des Erwerbs von Kompetenzen beziehen und damit die Emanzipation von Klassenzugehörigkeit akzentuieren kann, als auch das Ergebnis dieses Prozesses bezeichnen und damit zur Ausdifferenzierung von Klassen beitragen kann. Die narrative Formierung dieser sozialen Dynamik gerät durch eine vergleichende Analyse von literarischen und theoretischen Texten aus dem Kontext der Bildungsromantradition, des Vormärz und der Arbeiterbewegung nach 1848 sowie den theoretischen Schriften des Marxismus in den Blick.

Patrick Eiden-Offe: Klasse. Vom Figurationszwang der sozialen Wirklichkeit

In einer Untersuchung klassischer Texte der marxistischen Theorietradition (Marx, Lukács, Luxemburg u.a.) wird die figurative Verfasstheit der Kategorie „Klasse“ rekonstruiert werden. Es werden die rhetorischen und narrativen Strategien analysiert, welche die These von der Aufspaltung der Gesellschaft in antagonistische Klassen plausibilisieren sollen und die den „Klassenkampf“ als generativen Konflikt einsetzen, der soziale Realität allererst hervorbringt. Das Projekt wird zeigen, wie die Theorien einerseits die Flexibilität eines figurativ gehandhabten Klassen-Begriffs voll ausspielen, wie sie aber andererseits diesen Umstand im Hinblick auf ihre prätendierte „Wissenschaftlichkeit“ zu invisibilisieren versuchen. Die Untersuchung wird auch auf Figuren und Begriffe erweitert werden, die in aktuellen politischen Debatten zur „Wiederkehr der Klassengesellschaft“ auftauchen, wie etwa die des „Prekariats“ und der „Multitude“.

Manfred Weinberg: Die proletarische Autobiographie

Das Projekt wird – aufbauend auf einer derzeit entstehenden Studie zu Goethes Dichtung und Wahrheit, die den narrativen Strategien einer po(i)etischen Hervorbringung von Identität gilt – das Verhältnis von Individualität und Klasse in jenen Arbeiter-Autobiographien untersuchen, deren Legitimierung dezidiert im Verweis auf den Klassenbegriff erfolgt. Als Autobiographien kommen die untersuchten Texte nicht umhin, Individualität zu profilieren, wollen zugleich damit aber Klassenbewusstsein propagieren. In ihrer narratologischen Analyse sollten sich somit auch die Widersprüche des integrativen Begriffs der Klasse aufweisen lassen.

Publikation

Eva Blome, Patrick Eiden-Offe, Manfred Weinberg: Klassen-Bildung. Ein Problemaufriss. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL). 35, 2 (2010), S. 158–194.

Schwerpunkt Klasse: Literaturwissenschaft und Klasse – Interview mit Eva Blome und Patrick Eiden-Offe. In: undercurrents ~ Forum für linke Literaturwissenschaft, 4. November 2012