Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Habermas und der Mythos Kerneuropa

Sebastian Wolf

Ist das Projekt Kerneuropa eine mögliche Antwort auf das irische Nein zum Vertrag von Lissabon? Um diese Frage entspann sich in der Süddeutschen Zeitung eine Kontroverse zwischen Jürgen Habermas und Günter Verheugen. Der Konstanzer Politikwissenschaftler Sebastian Wolf kommentiert diesen Disput für die Einblicke.

Es ist relativ müßig, über die Motive der irischen Wähler zu spekulieren, die den Vertrag von Lissabon mehrheitlich ablehnten. Ein in Irland wohnender deutscher Leserbriefschreiber vermutet eine besondere Empfänglichkeit der Inselbewohner für krude Verschwörungstheorien. Das bunte Spektrum der „Nein“-Aktivisten habe den Reformvertrag unter anderem mit Mi­krochipimplantaten für alle irischen Kinder, erzwungenen Abtreibungen und Ein-Kind-Politik nach chinesischem Vorbild in Verbindung gebracht. Auch rein innerstaatliche Erwägungen wie die Einstellung zur derzeitigen irischen Regierung dürften erfahrungsgemäß eine Rolle gespielt haben. Bereits die Motive der Franzosen und Niederländer, die 2005 den inhaltlich fast identischen EU-Verfassungs­vertrag ablehnten, waren recht diffus.

Wer in Deutschland einen EU-Reformvertrag verhindern möchte, filtert Verschwörungstheo­rien in juristische Schriftsätze und klagt vor dem Bundesverfassungsgericht.

Die völkerrechtliche Basis der Europäischen Union bedingt, dass alle Mitgliedstaaten Änderungen der Gründungsverträge nach ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zustimmen müssen. Unter den Verfassungen der 27 Mitgliedstaaten sieht nur die irische Verfassung eine obligatorische Volksabstimmung bei der Übertragung von Kompetenzen auf supranationale Institutionen vor. Wer hingegen in Deutschland die Ratifizierung eines EU-Reformvertrags verhindern oder verzögern möchte, filtert Verschwörungstheo­rien in juristische Schriftsätze und klagt vor dem Bundesverfassungsgericht, wie es Peter Gauweiler gerade tut.

Habermas: Die Regierungen sind mit ihrem europapolitischen Latein am Ende

Jürgen Habermas wünscht sich keine europapolitische Revolution „aus Karlsruhe“, sondern setzt auf die Völker der Mitgliedstaaten. Sein Kommentar zum irischen Referendum (Süddeutsche Zeitung vom 17.6.2008) steht in der Tradition des mit Jacques Derrida gemeinsam verfassten Beitrags zur „Wiedergeburt Europas“ nach dem Irakkrieg. (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.5.2003) Habermas zufolge sind die Regierungen der Mitgliedstaaten mit ihrem europapolitischen Latein am Ende. Um das wirtschaftsliberale Elitenprojekt der Europäischen Union weiter an den Bürgern vorbei durchpauken zu können, habe man sich nach dem gescheiterten Verfassungsvertrag auf eine bürokratische Notlösung ohne Volksabstimmungen geeinigt – allerdings ohne die von der irischen Verfassung vorgesehene Ausnahme umgehen zu können.

Nun dürften die Regierungen „ihren lähmenden Dissens nicht weiter verdrängen“. Es gebe einige Mitgliedstaaten, die in wichtigen Politikfeldern enger zusammenarbeiten wollten, andere verteidigten den Status Quo. Die Lösung sei eine direktdemokratische Richtungsentscheidung in Form eines europaweiten Referendums im Zusammenhang mit der nächsten Europawahl. So hätten die Völker der Mitgliedstaaten jeweils die Möglichkeit, sich bewusst für den derzeitigen Zustand oder für ein politisch handlungsfähigeres Kerneuropa zu entscheiden.

Verheugens Antwort: europaweite Referenden sind inakzeptabel

In einer offenbar eilends zusammengeschriebenen Replik verurteilt Vizekommissionspräsident Günter Verheugen (Süddeutsche Zeitung vom 21./22.6.2008) europaweite Referenden als inakzeptablen Ansatz. Kein Mitgliedstaat sei bereit, „seine eigene Souveränität der mehrheitlichen Entscheidung anderer zu überantworten“. Die Idee eines Kerneuropas tauge für die heutige Welt nicht, denn wer solle schon über die Zugehörigkeit zum Kern entscheiden? Verheugen hat Habermas offenbar nur oberflächlich gelesen, denn dieser schließt ein Überstimmen einzelner Staaten explizit aus: Jedes Volk soll für sich über den Kerneuropa-Beitritt entscheiden.

Habermas bemängelt Verheugens „Weiter so“-Haltung.

Habermas geht in seiner Antwort auf Verheugen (Süddeutsche Zeitung vom 24.6.2008) auf diesen Punkt interessanterweise nicht ein. Er erwähnt auch nicht, dass der SPD-Politiker einst selbst – im Jahr 2000 – für Referenden über EU-Vertragsänderungen eintrat (und dafür unter anderem als „Kommissar Brandstifter“ diffamiert wurde). Verheugens Kritik an dem mangelnden öffentlichen Eintreten der nationalen Eliten für das Integrationsprojekt wird enthusiastisch zugestimmt. Habermas bemängelt vor allem Verheugens „Weiter so“-Haltung, nach der die Iren wohl in „zynischer Verachtung für das Ergebnis eines demokratischen Verfahrens“ einfach erneut über den Vertrag von Lissabon abstimmen sollen. Er verteidigt außerdem seinen Kerneuropa-Vorschlag: „Ein wenig mehr an demokratisch legitimiertem Gestaltungsspielraum“ sei „nur auf dem Wege einer abgestuften Integration für einige zu erreichen“.

Habermas' Kerneuropa: ein verkappter Bundesstaat?

Doch was fordert Habermas eigentlich genau? Er skizziert ein europäisches Gemeinwesen, das deutlich homogener ist als die jetzige Union, das stets mit einer Stimme spricht, das eine umfassende Außen- und Sicherheits- sowie Wirtschafts- und Sozialpolitik betreibt, dessen politisches Gewicht seinem ökonomischen entspricht, das über eine eigene Öffentlichkeit verfügt.

Habermas' Kerneuropa ist selbst voller konventioneller Wunschvorstellungen.

Fügt man diese Elemente zusammen, so erscheint Habermas’ Kerneuropa, zugespitzt formuliert, als ein europäischer Bundesstaat. Habermas kritisiert Verheugens Vision eines voll parlamentarisierten EU-Regierungssystems zurecht als „zu konventionell“, aber sein Kerneuropa ist selbst voller konventioneller Wunschvorstellungen: Er recycelt den kontinentaleuropäischen demokratischen Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts, indem er ihn nahezu bruchlos auf die supranationale Ebene hebt. Wenn Habermas Verheugens Feststellung, es gebe kein europäisches Volk, als „Wasser auf die Mühlen des Rechtspopulismus“ bezeichnet, so muss er sich fragen lassen, ob sein staatsähnlicher Kerneuropaentwurf nicht – wie die Staatssymbolik des gescheiterten Verfassungsvertrags – heftige rechtspopulistische Gegenreaktionen hervorrufen kann.

Kerneuropa als homogene Utopie

Dieser schöne neue Kerneuropastaat soll künftig in der Lage sein, allem Bösem in der Welt kraftvoll entgegenzutreten, weil er nicht mehr durch interne Differenzen gelähmt wird – als ob die jetzige Union allein durch einen übersichtlichen Konflikt zwischen zwei klar abgrenzbaren Gruppen von Mitgliedstaaten, den Befürwortern und den Gegnern einer engeren Inte­gration, gekennzeichnet sei. Die Interessengegensätze im realen europäischen Mehrebenensystem sind vielmehr hochkomplex: Zwischen und innerhalb der unterschiedlichen Politikfelder verlaufen diverse Konfliktlinien zwischen und innerhalb der Mitgliedstaaten. Komplexe Probleme erfordern ein fallspezifisches Zusammenwirken der nationalen und supranationalen Ebenen. Die Produktion derartiger Koordinierungsleistungen in heterogenen Kontexten und ihre demokratische Rückbindung ist eine der großen Herausforderungen für Politik und Verwaltung in den kommenden Jahren.

Der unterschätzte Status Quo

Es mangelt nicht an Kompetenzklauseln, sondern an politischem Willen.

Der Vertrag von Lissabon ist keinem Sachzwang entsprungen. Es gibt keine echte Notwendigkeit, seit Anfang der 90er Jahre beträchtliche Ressourcen für die Erarbeitung und Ratifizierung immer neuer Reformverträge aufzuwenden. Die durch künftige Erweiterungen bedingten institutionellen Anpassungen können auch in den jeweiligen Beitrittsverträgen geregelt werden. Institutionelle Verbesserungen des EU-Regierungssystems und intensivere Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Sozialpolitiken auf europäischer Ebene sind auch unter dem jetzigen Vertragswerk möglich. Darauf hat kürzlich auch Timothy Garton Ash hingewiesen. (Süddeutsche Zeitung vom 23.6.2008) Es mangelt nicht an Kompetenzklauseln, sondern an politischem Willen. Ob sich ein solcher allerdings sofort und dauerhaft in einem mythischen Kerneuropa à la Habermas einstellt, ist mehr als fraglich.

Die entscheidende Frage ist wohl, wie man mit dem bestehenden Instrumentarium, für das sich die Iren im Ergebnis ausgesprochen haben, bessere Mehrebenenpolitik gestalten kann. Solche Überlegungen, die der inkrementellen Entwicklungsgeschichte der europäischen Integration Rechnung tragen, begraben jedoch vermutlich aus der habermas­schen Sicht nur „jeden weiterführenden Gedanken zu Europa in der Langeweile ihres technokratischen Geredes“. Habermas interessiert sich offenbar ausschließlich für einen großen Wurf, der noch deutlich ambitionierter sein soll als jene Reform, die von Franzosen, Niederländern und Iren verworfen wurde. Sein Kerneuropa wäre vermutlich recht bevölkerungsarm.

Porträt Sebastian Wolf

Dr. Sebastian Wolf forscht im Exzellenzcluster zu „Korruption und Integration. Internationale Korruptionsbekämpfung: Kultureller Imperialismus oder integrierender Schritt auf dem Weg zur Weltgesellschaft?“. Seine Forschungsschwerpunkte sind Europäische Integration und Korruptionsbekämpfung.
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