Religiöse Minderheiten
Schwerpunkt des akademischen Jahres 2015/2016
Nicht erst seit der öffentlichen Debatte über die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht, erschien die Existenz religiöser Minderheiten in Deutschland als ein brisantes Problem. Debatten wie diese erwecken den Eindruck, als seien die gegenwärtigen Erfahrung mit religiöser Vielfalt eine neuartige Herausforderung für das politische und kulturelle Handeln der Gegenwart. Doch ist religiöse Vielfalt mitnichten nur ein Phänomen der Moderne und ihrer Migrationsprozesse. Multireligiosität war in der Vergangenheit weit verbreitet. Monoreligiosität erscheint dagegen eher als besonderer Zustand. Er scheint erst unter den Bedingungen neuzeitlicher Herrschaftsformen über längere Zeit aufrechterhalten werden zu können. Daher wird für dieses Schwerpunktthema bewusst ein hoher Anteil vormoderner Forschung angestrebt, um die aktuellen Diskussionen in einen größeren Kontext einzubetten.
Die eingeladenen Fellows sollen mit ihren Studien zur empirischen und theoretischen Erforschung von religiösen Minderheiten dazu beitragen. Erwünscht sind dabei Wissenschaftler/-innen aus unterschiedlichen Disziplinen wie Ethnologie, Rechtswissenschaft, Geschichte, Politikwissenschaft, Soziologie, Theologie und Literaturwissenschaft. Sie sollen den Gegenstand aus unterschiedlichen Fragestellungen zeit- und raumübergreifend untersuchen und dabei Identitätsbestimmung, interreligiöse Interaktion und öffentliche Präsenz von religiösen Minderheiten vergleichen. Auf der empirischen Ebene wird zugleich ein breites Spektrum von Religionen und religiösen Bewegungen angestrebt.
Mögliche Forschungsfragen:
- Wie und warum entstehen religiöse Mehrheiten und Minderheiten und in welchem Wechselverhältnis steht dies zur Theologie?
- Welche sozialen und kulturellen Konstellationen verhindern stabile religiöse Minderheiten?
- Wie und warum kommt es zur religiösen Aufladung des Zusammenlebens bzw. zu deren Abklingen?
- Was begünstigt oder verhindert Gewalt? Wie wird sie legitimiert und wie wird sie ausgeführt?
- Welche Ordnungsstrategien, Normen und Rechte werden von Minderheiten und Mehrheiten gewählt?
- Welche theoretischen und empirischen Modelle und Begriffe bewähren sich im diachronen und synchronen Vergleich?
1. Enstehung von religiösen Minderheiten und Mehrheiten
Migration, Eroberung oder Mission, letztere ebenfalls mit Migrationsprozessen verbunden, verändern religiöse Landschaften. Zugleich aber waren und sind in der ansässigen Bevölkerung stets auch interne religiöse Differenzierungspozesse am Werk. Dies gilt etwa für die Religionen auf dem indischen Subkontinent ebenso wie für das europäische Christentum. So bewirkten die religiösen Bewegungen im lateinischen Christentum seit dem 11. Jahrhundert ebenso wie die Ausgrenzungsstrategien der römischen Kirche, dass römische Christen und Häretiker religiös und sozial auseinanderdrifteten. Letztere begannen, geheime Konventikel aufzubauen und sich in ihrer Lebensweise von den anerkannten Christen zu unterscheiden. Besonders markant war im neuzeitlichen Europa später die Differenzierung zwischen Protestanten und der katholischen Kirche. Unterschiedliche Strömungen traten auch im mittelalterlichen Islam und im Judentum auf, wie auch die Entstehung des Christentums selbst durch solche Differenzierungsprozesse erklärt werden kann. Heute befindet sich das Christentum in vielen Gebieten der neuen deutschen Bundesländer in der Minderheit; dieser Prozess ist eine Folge weitreichender politischer Strategien.
Religiöse Zugehörigkeit und Identität muss immer wieder ausgehandelt, definiert und gewählt werden. Ein rational-choice-Muster für die eigene Positionsbestimmung scheint es nicht zu geben. Die Außengrenzen von Religionen werden immer wieder neu bestimmt und durchbrochen. Diese Prozesse haben einerseits unmittelbare Folgen für soziale und kulturelle Entwicklungen und andererseits für die Entwicklung religiöser Lehren und Überzeugungen selbst. Diese sozialen und kulturellen Differenzierungsprozesse wurden religionssoziologisch unter anderem als Kirche-Sekte-Typologie gefasst; diese Typologie wird bis in die Gegenwart methodisch und theoretisch weiterentwickelt und empirisch angewandt. Ein weiterer theoretischer Zugang ist die Differenzsoziologie.
Bei der Untersuchung von Abgrenzungs- und Identifikationsstrategien erscheint die Erforschung der Binnenperspektive religiöser Minderheiten wie der Mehrheiten besonders fruchtbar. Warum und in welcher Weise werden Differenzen wünschenswert? Welche konkurrierenden Deutungsoptionen gibt es und wer profitiert davon institutionell oder persönlich? Und wie verändern sich Identitätsdiskurse innerhalb von Religionsgemeinschaften in einer Diasporasituation?
2. Verflechtung und Interdependenz
Die historische Interdependenz und Verflochtenheit von religiösen Mehrheiten und Minderheiten ist durch solche und andere theoretische Zugänge grundsätzlich erfasst, wenn auch eine weitere Entwicklung und Verfeinerung wünschenswert ist. Samuel D. Goitein prägte für die islamisch-jüdische Kultur des Vorderen Orients z.B. den Begriff „kreative Symbiose“, der sich auch auf andere Räume fruchtbar übertragen lässt.
Allerdings werden in der gegenwärtigen Debatte die religiösen Minderheiten als Fremde klassifiziert und umgekehrt Einwanderer als religiöse Minderheiten deklariert. Diese Zuschreibungen sind durch das Säkularisierungsnarrativ beeinflusst; der Fremde entstammt demgemäß einer vergangenen Zeit und muss Modernisierung nachholen. Dagegen ist die grundsätzliche Interdependenz von Minderheiten und Mehrheiten öffentlich und häufig genug wissenschaftlich gänzlich unterrepräsentiert. Auch in der historischen Forschung ist die Interdependenz unterschiedlicher Religionen und religiöser Strömungen noch kaum in allgemeine Narrative und Modelle eingebettet. Juden, Muslime und Häretiker sind in die großen Narrative der europäischen Geschichte ebensowenig integriert wie Juden und Christen in der Geschichte des islamischen Westasien. Üblicher sind spezialisierte Forschungen zu einer Religion oder Strömung. Sie folgen vielfach den Darstellungen der Religionen selbst, die sich als historisch autonom verstehen. Es wird noch selten gefragt, in welcher Weise die religiösen Minderheiten die dominanten Religionen verändert haben.
Die monotheistischen religiösen Kulturen scheinen sich hier von anderen, etwa westlich-antiken oder bestimmten asiatischen Religionskulturen, zu unterscheiden, in denen die Multireligiösität und die Tatsache der gegenseitigen Duldung oder sogar multireligiöse Harmonie zu den gesellschaftlichen Idealen zählt. Diese Unterschiede sind für sich bereits bemerkenswert und bedürfen der systematischen Untersuchung. Es gilt darüber hinaus zu fragen, in welcher Weise und mit welchen historischen Modellen Verflechtung und Interdependenz von Religionen dargestellt werden können.
3. Macht, Gewalt, Recht, Organisation
Quantitative Verhältnisse zwischen den religiösen Gruppen sind häufig nicht mit den Machtverhältnissen kongruent. Die Anhänger der dominanten Religion waren und sind nicht selten zahlenmäßig unterlegen. Daher dürfen religiöse Minderheiten methodisch nicht mit Randgruppen oder sonst mit diskriminierten Gruppen gleichgesetzt werden. Zu unterscheiden ist vielmehr nach dominanten und nachgeordneten Religionen.
Angehörige der nicht-dominanten Religionen mussten und müssen oft eine nachgeordnete Position hinnehmen und hatten - und haben z.T. noch immer - einen schlechteren Zugang zu ökonomischen und kulturellen Ressourcen. Selbst wenn, wie in unserer westlichen Gegenwart, die Diskriminierung aus religiösen Gründen normativ untersagt ist, befinden sich Angehörige der verschiedenen religiösen Gruppierungen in einem Zustand nicht-egalitärer Beziehungen. Nicht selten sahen und sehen sich religiöse Minderheiten Verfolgungen, Gewalt oder Ausgrenzungen ausgesetzt. Modelle, die die religiöse Gewalt erklären, bedürfen der theoretischen und methodischen Verfeinerung.
Außerdem bedürfen die Spielregeln oder Normen, mit denen die multireligiöse Situation geregelt wird, die größte Aufmerksamkeit. Hier lässt sich auf empirischer Ebene eine weite Bandbreite von Optionen verzeichnen, die wiederum kontextbeeinflusst gewählt wurden. Dem religiösen Pluralismus oder „Marktplatz der Religionen“ in der Antike steht etwa das (uneingelöste) Einheitsideal des Mittelalters oder das (nicht vollständig realisierte) Toleranzparadigma der Neuzeit gegenüber. Welche Kategorien vorherrschend sind, berührt gleichermaßen die Normsetzungsinstanzen des öffentlichen Rechts wie der Staats- bzw. Religionsphilosophie oder der Theologie. Recht und Verwaltung gehören zu Strategien von Gesellschaften, multireligiöse Situationen, meist gemäß den Vorstellungen der dominanten Religion, zu ordnen. Daher sind Recht und andere Ordnungskategorien ein zentraler Gegenstand der Erforschung multireligiöser Kulturen.
Die vormodernen monotheistischen Kulturen im lateinischen Europa, in Byzanz und der islamischen Welt etwa verfolgten spezifische rechtliche Strategien mit theologischer Begründung, die multireligiöse Situation zu ordnen und zu kontrollieren. Religiöse Duldung wurde in ein System von Rechten, Einschränkungen, Pflichten und Privilegien gefasst, die heute mit zunehmender Intensität erforscht werden. Typisch für diese Kulturen war allgemein eine Pluralität von Rechten und Instanzen, in die ein bestimmtes Maß rechtlicher und religiöser Autonomie der untergeordneten Religionen eingelassen wurde. Rechte und Ordnungen wurden von dominanten wie untergeordneten Religionen für die Abgrenzung und den Schutz beziehungsweise den Ausbau der religiösen Identitätsbildung entwickelt und genutzt. Forum-shopping war trotz der ungleichen Rahmenbedingungen auch in mittelalterlichen monotheistischen Kulturen eine wichtige Strategie der untergeordneten Religionen, die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern.
4. Sichtbarkeit, Dramatisierung
Das Zusammenleben Angehöriger unterschiedlicher Religionen wird von kulturellen Prozessen begleitet, die noch genauer untersucht werden müssen. Zum Teil verbunden mit rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen, zum Teil jedoch auch unabhängig davon agieren und konkurrieren Minderheiten und Mehrheiten um politische und soziale Präsenz im gemeinsam bewohnten Raum. Dazu zählen etwa die Sichtbarkeit von Moscheen, Minaretten und Synagogen oder die optische Organisation des Raumes überhaupt. Der Wunsch nach Sichtbarkeit und die Verhinderung von Sichtbarkeit lassen sich auf vielen unterschiedlichen Feldern beobachten.
Sichtbarkeits- und Ausblendungsstrategien hängen offensichtlich mit einem anderen Prozess zusammen. Religiöse Zugehörigkeiten können in bestimmten Zeiten scharf aktualisiert und dramatisiert werden, sowohl ausgehend von Mehrheiten wie von Minderheiten. In solchen Phasen kann Abgrenzung oder auch Gewalt zu einem wesentlichen Bestandteil religiöser Identität werden. Gleichzeitig erscheint religiöse Identität in solchen Situationen dann als zentrales Element der persönlichen Identität überhaupt. Nun werden zunehmend mehr kulturelle Bereiche des Alltagslebens als religiös bedeutsam erfahren und deklariert. Zu anderen Zeiten indessen mögen dieselben Religionen nebeneinander existieren und diese Dramatisierung ereignet sich nicht. Andere Distinktionen etwa gemäß sozialer Herkunft oder ethnischer Zugehörigkeit können stattdessen dominieren; die Religion ist nicht vorrangig identitätsstiftend.
In den letzten Jahrzehnten wurde die religiöse Zugehörigkeit von Menschen, die in Deutschland leben, massiv dramatisiert. Einwanderer werden oft nicht gemäß ihrer ethnischen, sozialen oder nationalen Herkunft klassifiziert, sondern gemäß ihrer Religion, vor allem dann, wenn sie dem Islam angehören. Dies hat unterschiedliche Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung und die Konstruktion der eigenen Identität. Etwa in derselben Zeit wurde im Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen in ganz Europa die Kleidung zu einem äußerst wichtigen, religiös aufgeladenen Feld. Eine religiös neutrale Kleidung ist inzwischen fast unmöglich; Kleidung ist derzeit ein Zeichen der Zugehörigkeit zur oder der Ablehnung der europäischen Mehrheitsgesellschaft, mitsamt ihren spezifischen Idealen religiöser Ordnung.
Kleidung ist tatsächlich schon seit Jahrhunderten ein Feld, über das immer wieder religiöse Abgrenzung dramatisiert werden konnte. Dabei wurden auch Regeln erfunden, die die Distinktion erzwangen, wie Kleiderordnungen. Zugleich haben religiöse Gruppen jedoch die Kleidung auch für sich selbst immer wieder als Merkmal der Identität und Abgrenzung erkannt und genutzt. Auch die Nahrung oder der Wohnort, wie z.B. die räumliche Separierung, können solche Felder religiöser Dramatisierung sein. Nicht zuletzt die Sprache und die Schrift wurden immer wieder religiös aufgeladen. Diese Aufladungen verebben zu anderen Zeiten wieder. Wie und warum sie nachlassen, ist bisher kaum erforscht worden. Ob sie in nichtmonotheistischen Religionen die gleiche Reichweite haben, ist bisher kaum verglichen worden. Nur diachron und synchron vergleichend lässt sich weiterhin erhellen, welche und warum manche Felder des Lebens im multireligiösen Zusammenleben nicht religiös aufgeladen werden. Diese stellen sich als dritter Raum dar, auf dem sich Angehörige unterschiedlicher Religionen begegnen. Dies konnten zu Zeiten etwa Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft sein.
Dorothea Weltecke (auf der Grundlage von Diskussionen und gemeinsamen Texten mit Matthias Armgarth, Steffen Dieffenbach, Özkan Ezli, Ulrich Gotter, Thomas G. Kirsch)
Veranstaltungen in der Reihe „Konstanzer Forschungen zur Religion“
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