Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Der Völkermord in Ruanda

Von Johannes Scheu

Mit nahezu einer Million ermordeten Tutsi zählt der ruandische Völkermord von 1994 zu den größten Gewaltverbrechen des 20. Jahrhunderts. Die politische Elite um den damaligen Präsidenten Habyarimana wusste gezielt das über Generationen gewachsene ethnische Konfliktpotential zur Durchführung eines organisierten Genozids einzusetzen. Fünfzehn Jahre nach Beginn des Völkermords ist die juristische Aufarbeitung durch den Internationalen Strafgerichtshof und die ruandische Gerichtsbarkeit noch lange nicht abgeschlossen.

Bis in die 1990er Jahre galt Ruanda, mit etwa acht Millionen Einwohnern das am dichtesten bevölkerte Land Afrikas, als Vorzeigemodell einer gelungenen Entwicklungspolitik. Von April bis Juli 1994 jedoch wurden in Ruanda zwischen 800 000 und einer Million Menschen durch ihre eigenen Landsleute ermordet. Es war die ethnische Minderheit der Tutsi, gegen die sich die Gewalt der Hutu-Bevölkerung vorrangig richtete. Der ruandische Völkermord zeichnet sich dabei vor allem durch zwei Merkmale aus. Zum einen durch den ethnischen Konflikt zwischen Hutu und Tutsi, dessen Entstehung weit in die koloniale Geschichte Ruandas zurückreicht. Zum anderen durch die politischen Hintergründe und den Organisationsgrad des Genozids, den es deshalb nicht allein auf eine Stammesfehde zu reduzieren gilt.

Der niedrigste Knecht sei er seinen Brüdern

Vor Beginn der deutschen Kolonialherrschaft im Jahre 1899 diente die Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi zur Beschreibung sozialer Gegensätze. Das Königreich Ruanda wurde von einer Tutsi-Dynastie regiert. Tutsi waren in der Regel wohlhabende Viehzüchter, Hutu dagegen Bauern. Eine ethnische Relevanz besaß diese Unterscheidung aber nicht. Vielmehr zeichneten sich Hutu und Tutsi durch einen reichen Fundus ethnisch-kultureller Gemeinsamkeiten aus: Sie bewohnten dasselbe Territorium, besaßen eine gemeinsame Religion, sprachen dieselbe Sprache und heirateten einander.

Mit dem Kolonialismus jedoch hielt die Hamitentheorie Einzug in Ruanda, welche auf eine rassenideologische Interpretation des Buches Genesis zurückgeht. Nachdem Ham bei seinem Vater Noah in Ungnade gefallen war, verfluchte dieser Hams Sohn Kanaan mit den Worten: „Der niedrigste Knecht sei er seinen Brüdern“. Dunkelhäutige Menschen galten in der Hamitentheorie als Nachfahren Hams. Durch seinen Sündenfall waren sie zur rassischen Minderwertigkeit verdammt.

Im Zuge der napoleonischen Ägyptenexpansion wurde die Hamitentheorie zunehmend unhaltbar, da man nun auch auf afrikanische Hochkulturen stieß. Der Afrikaforscher John Hanning Speke versuchte 1863 diesen Widerspruch durch eine Neufassung der Hamitentheorie zu beheben. Der „weißen Rasse“ untergeordnet, seien die Hamiten durch ihre biblischen Wurzeln gleichzeitig der „negriden Urbevölkerung“ Afrikas überlegen. Die Hamiten, Speke zufolge über Äthiopien in den Süden Afrikas vorgedrungen, stellten nun eine Art missing link zwischen Primitivität und Hochkultur dar.

In der Tutsi-Dynastie sahen die Kolonialisten Spekes Hypothese bestätigt. Da Ruanda keine Schriftkultur besaß, war es den Tutsi im Gegenzug möglich, die orale Geschichtsschreibung Ruandas an die Hamitentheorie anzupassen. Ein herrschaftslegitimatorischer Teufelskreis entstand: Die Tutsi untermauerten mit der Hamitentheorie ihren eigenen Herrschaftsanspruch, während die Kolonialisten ihre Theorie hierdurch umso stärker verifiziert sahen. Durch eine Stärkung des ruandischen Königshauses konnten die Kolonialherren ihre eigene Machtstellung in Ruanda festigen.

Infolge des Ersten Weltkriegs ging die Kolonialherrschaft in belgische Hände über. Belgien setzte die konstruierte ethnische Differenz der Ruander 1933 in bürokratische Maßnahmen um. Die Kategorien Tutsi und Hutu (sowie Twa als dritte, kaum vertretene Ethnie) wurden als Identitätsmerkmale in die neu geschaffenen Pässe der Ruander aufgenommen. Der ethnische Rassismus hatte sich nun fest in das politisch-institutionelle Gefüge eingeschrieben. Bei vielen Hutu, in ihrem Selbstverständnis gleichermaßen durch die Hamitentheorie geprägt, wuchs derweil die Wut über ihre Unterwerfung durch eine „fremde“ hamitische Rasse.

Die Hutu-Republik

Im Zuge des in den 1960er Jahren einsetzenden Dekolonisationsprozesses ergriff Belgien zunehmend Partei für die Hutu. Die Entkolonisation Ruandas fiel deshalb mit einem von Belgien unterstützten Aufstand gegen die Tutsi-Dynastie zusammen. 1962 wurde die unabhängige „Hutu-Republik“ ausgerufen. In den Folgejahren fielen zehntausende Tutsi verschiedenen Pogromen radikaler Hutu zum Opfer, hunderttausende Tutsi flüchteten aus Ruanda.

Nachdem Juvénal Habyarimana 1973 durch einen Militärputsch die Regierungsmacht übernommen hatte, zeichnete sich für kurze Zeit eine Milderung des Konflikts ab. Die gespannte Ruhe der „2. Republik“ endete jedoch mit Beginn der 1990er Jahre. Eine Vielzahl ökonomischer und politischer Probleme tat sich auf. Der Verfall der Weltmarktpreise für Kaffee, Ruandas Hauptexportgut, führte zu einer Wirtschaftskrise, die insbesondere junge Männer in die Arbeitslosigkeit drängte. Dies erklärt den massiven Zulauf, den paramilitärische Milizen, die späteren Ausführer des Genozids, in dieser Zeit verzeichneten. Die Regierungspartei Habyarimanas (MRND) sah sich durch ausländischen Druck zur Einführung eines Mehrparteiensystems gezwungen, was eine Schwächung ihres Machtmonopols bedeutete. Schließlich startete die Rwandian Patriotic Front (RPF), eine überwiegend aus Tutsi-Exilanten der 2. Generation bestehende Rebellengruppe, 1990 ihre Invasion im Norden Ruandas. Der Konflikt zwischen Hutu und Tutsi eskalierte vollends. Ruanda stürzte in den Bürgerkrieg.

Im tansanischen Arusha fanden deshalb Friedensverhandlungen zwischen der RPF und der MRND statt. Das Arusha-Abkommen vom Januar 1993, welches eine Regierungsbeteiligung der RPF vorsah, wurde von Seiten extremistischer Hutu als erneute Machtergreifung der Tutsi propagiert. Als schließlich Präsident Habyarimana am 6. April 1994 beim Anflug auf den Flughafen Kigalis durch ein bis heute ungeklärtes, möglicherweise jedoch von Hardlinern seiner eigenen Partei geplantes Attentat getötet wurde, waren die Vorkehrungen zum Völkermord bereits getroffen. Mit computererstellten Todeslisten im Gepäck errichtete die regierungsnahe Interahamwe-Miliz sofort in allen Teilen der Hauptstadt Straßensperren.

100 Tage Hölle

Obwohl die RPF für das Attentat verantwortlich gemacht wurde, ermordeten die Milizen zunächst die überwiegend aus moderaten Hutu bestehende politische Opposition. Je stärker dabei die Vernichtung der Tutsi in den Vordergrund rückte, desto mehr wich der hohe Organisationsgrad des Genozids einer Eigendynamik der Gewalt. Schätzungen gehen davon aus, dass sich bis zu 60% der männlichen Hutu, mit Macheten und Nagelkeulen bewaffnet, am Töten beteiligten.

Ein in der Bevölkerung stark ausgeprägter Autoritätsglaube wurde durch eine mediale Propaganda infiziert, die  besonders durch den Radiosender Radio Télévision Libre des Mille Collines (RTLM) vorangetrieben wurde. Unmittelbar vor dem Genozid ließ die Regierung überall im Land kostenlos Hörfunkgeräte verteilen. Das regierungsnahe RTLM, welches mittlerweile das Sendemonopol innehatte, berichtete fortlaufend über fiktive Massaker der RPF an Hutu, um die Ermordung der Tutsi als Verteidigungsmaßnahme zu rechtfertigen. Die Bevölkerung konnte die von RTLM verbreiteten Nachrichten nicht durch einen Rückgriff auf alternative Informationsquellen infrage stellen.

So setzte sich die gleichsam barbarische wie sexualisierte Gewalt an den Tutsi über Monate hinweg fort. Dem ruandischen Militär strategisch überlegen, nahm die RPF unter Führung des heutigen Präsidenten Paul Kagame Anfang Juli 1994 Kigali ein. Begleitet von einem Exodus von Millionen Hutu, die aus Angst vor der RPF die Flucht ergriffen hatten, wurde der ruandische Völkermord beendet.

Ein zu schwaches Mandat

Während die RPF im Alleingang Region um Region einnahm, war die seit 1993 zur Überwachung des Friedensprozesses im Land stationierte United Nations Army Mission for Rwanda (UNAMIR) unfähig, das Morden aufzuhalten. Mit einem zu schwachen Mandat ausgestattet, war den etwa 2500 Blauhelmen der Waffengebrauch nur im Selbstverteidigungsfall erlaubt. Eine Mandatserweiterung nach Kapitel VII der UN-Charta (friedenserzwingende Mission) wurde im UN-Sicherheitsrat blockiert. Dabei hatten sich der UNAMIR bereits bei Missionsbeginn Anzeichen eines bevorstehenden Genozids aufgedrängt.

Im Januar 1994 wurde der kanadische Befehlsleiter Roméo Dallaire über illegale Waffenlager und die Erstellung von Tutsi-Todeslisten informiert. Sein Vorhaben, jene Lager auszuheben, wurde ihm durch Kofi Annan, damals Unter-Generalsekretär der UNO und verantwortlich für friedenserhaltende Einsätze, untersagt. Rückblickend auf seine zahllosen Warnungen vertritt Dallaire heute noch die Überzeugung: Mit 5000 Blauhelmen und einem robusten Mandat hätte der Völkermord verhindert werden können.

Nach der Ermordung von zehn belgischen Soldaten durch die Interahamwe wurde die UNAMIR auf 270 Mann reduziert. Tausende Ruander, die in der Nähe der UN-Quartiere Schutz gesucht hatten, wurden hierdurch dem sicheren Tode ausgeliefert. Derweil vermied es insbesondere die USA, die Geschehnisse in Ruanda als Genozid zu bezeichnen. Denn gemäß der UN-Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords wäre es genau dieser Begriff gewesen, der den UN-Sicherheitsrat zum Handeln gezwungen hätte. Ein Jahr zuvor in Somalia mit der Operation Restore Hope tragisch gescheitert, schreckte die USA jedoch vor einer erneuten humanitären Intervention zurück. Als am 17. Mai schließlich doch noch eine Aufstockung der UNAMIR um 5500 Soldaten samt einem robusten Mandat beschlossen wurde, kam diese Entscheidung zu spät. Als der Genozid durch die RPF beendet wurde, existierte UNAMIR II lediglich auf dem Papier.

Frankreich, ein Verbündeter Habyarimanas, errichtete stattdessen Ende Juni in eigener Regie eine Schutzzone im Südwesten Ruandas. Obwohl die Opération Turquoise vielen Tutsi das Leben rettete, stieß das Vorgehen Frankreichs auf erhebliche Kritik. Vielen Verantwortlichen des Genozids gelang unter Duldung des französischen Militärs eine Flucht ins benachbarte Zaire. Zudem wurden auch die vor der RPF fliehenden Hutu-Milizen nicht entwaffnet, was eine massive Destabilisierung der Region zur Folge hatte. Der Ausbruch des Kongo-Krieges hat hierin eine seiner Hauptursachen.

Die Last der Vergangenheit

Zur juristischen Aufarbeitung des Genozids richteten die Vereinten Nationen Ende 1994 den in Arusha tagenden Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) ein, welcher sich mit Anklagen gegen die Organisatoren des Völkermords befasst. Trotz erheblicher Kritik an seiner Ineffizienz konnte der ICTR bedeutende Urteile verzeichnen. Der Tatbestand der sexuellen Gewalt wurde explizit als Völkermordhandlung definiert, zudem erfolgte in Arusha die historisch erste Verurteilung auf Basis der UN-Völkermordkonvention überhaupt. Alle ausstehenden Verfahren des ICTR sollen bis 2010 abgeschlossen sein.

Das Gros der Verhandlungen indes bleibt der Gerichtsbarkeit Ruandas selbst überlassen, das sich durch diese Aufgabe rasch überfordert zeigte. Da Hunderttausende von vermeintlichen Tätern ihren Prozess aus zeitlichen Gründen nicht mehr hätten erleben können, entschied sich die Regierung 2002 zur Wiedereinführung der vorkolonialen Gacaca-Gerichte.

Als eine Form kommunaler Rechtsprechung, die auf einem Dialog zwischen Täter und Opfer basiert, sollten die von Laienrichtern geführten Gacaca-Prozesse eine soziale Versöhnung der Bevölkerung bewirken. Doch ist die Begeisterung, mit der den rund 13000 Gacaca-Gerichten anfangs begegnet wurde, inzwischen Skepsis gewichen. Verstärkt wurde dem ruandischen Rechtssystem vorgeworfen, eine Siegerjustiz zu betreiben. Dass die RPF-Regierung sich bis heute weigert, an der Aufarbeitung der eigenen während des Bürgerkriegs begangenen Verbrechen mitzuwirken, erhärtet diesen Verdacht.

Ob die ruandische Bevölkerung ihre Vergangenheitslast wird bewältigen können – diese Frage hat auch 15 Jahre nach dem Völkermord nichts an ihrer Dringlichkeit verloren. Im post-genozidären Ruanda wurden die Begriffe Hutu und Tutsi unter Strafandrohung aus dem politischen Diskurs verbannt. Solange jedoch die ethnische Dimension dieser Begriffe durch die blutigen Konflikte im Gebiet der Afrikanischen Großen Seen fortwährend reproduziert wird, bleibt sie auch im Bewusstsein der Ruander präsent.

Porträt Johannes Scheu

Johannes Scheu ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe „Idiome der Gesellschaftsanalyse“. Er forscht zu „Kritiken der Exklusion. Zum Phänomen sozialer Ausgrenzung im Feld neuerer Sozialtheorien“.

Der Artikel erschien zuerst unter der Überschrift „Hundert Tage Hölle in Rwanda“ in der Neuen Zürcher Zeitung vom 3. April 2009. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.