Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

„Die UNO funktioniert in Krisensituationen am besten“

von Sebastian Brauns

Dr. Melanie Schreiner und Sebastian Döring im Gespräch über die Rolle der Vereinten Nationen in Haiti

Hilfslieferung für ein Hospital in Haiti
Hilfslieferung für ein Hospital in Haiti. UN Photo/Logan Abassi

Frau Schreiner und Herr Döring, Sie haben Anfang 2009 in Haiti geforscht ‒ was hatte Sie dorthin geführt?

Als Organisationswissenschafler interessieren wir uns für die Zusammenarbeit verschiedener Organisationen in Netzwerken. Als Beispiel dienen uns die Friedensoperationen der Vereinten Nationen, konkret in Liberia und Haiti, denn hier arbeiten eine Vielzahl von verschiedenen UN-Organisationen zusammen. Sie alle gehören zwar zum UNO-System, unterscheiden sich aber sehr stark hinsichtlich ihrer Expertise und ihrer Organisationskultur. Neben der von Militärs dominierten Friedensmission gibt es humanitär ausgerichtete Organisationen aber auch langfristig planende, entwicklungspolitisch orientierte Akteure. In Haiti wollten wir erfahren, wie sich deren Zusammenarbeit gestaltet und wie sie verbessert werden kann. Dazu führten wir vor Ort umfangreiche Interviews mit Repräsentanten der verschiedenen Organisationen.

Stehen Sie derzeit in Kontakt mit Mitarbeitern und Bekannten aus dieser Zeit?

Die meisten Orte und UNO-Gebäude, die nun so stark betroffen sind, kennen wir von eigenen Besuchen. Leider müssen wir davon ausgehen, dass mindestens drei unserer Interviewpartner unter den Opfern sind. Wir haben versucht, unseren lokalen Fahrer zu erreichen ‒ bisher leider ohne Erfolg. Immerhin scheinen der deutsche Botschafter Jens-Peter Voss sowie drei andere Bekannte nicht betroffen bzw. in Sicherheit zu sein. Informationen beziehen wir momentan nur aus den Blogs und Internet-Communities, in denen Angehörige und Freunde nach Überlebenden fahnden.

Die Vereinten Nationen sprechen von der schlimmsten Katastrophe in ihrer Geschichte. Damit ist nicht nur die furchtbar hohe Zahl an Toten gemeint, sondern auch die Hilflosigkeit angesichts der logistischen Probleme. Inwiefern gestaltet sich in Haiti die Logistik besonders schwierig?

Auch vor der Katastrophe war die Infrastruktur Haitis hochproblematisch. Die Straßen sind in sehr schlechtem Zustand und nun sind viele Straßenzüge, insbesondere in der Innenstadt von Port-au-Prince, auch noch durch eingestürzte Gebäude versperrt. Man ist inzwischen dazu übergegangen, den Flughafen Santo Domingo als Drehscheibe zu nutzen. Hier sind von der UNO verschiedene Lager angemietet worden und man versucht, mit LKW-Kolonnen die Hilfsgüter zu verteilen. Momentan dauert die Fahrt jedoch sehr lange und wird durch die Flüchtlingsströme erschwert.

Dringend benötigtes Wasser erreicht Haiti.
Dringend benötigtes Wasser erreicht Haiti. UN Photo/Marco Dormino

Auch darf man in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass die momentane Katastrophe nicht nur durch die geographische Konzentration der Opfer und die Zerstörungen gekennzeichnet ist, sondern auch durch den Zusammenbruch des Staates und von Teilen der schon vorher vorhandenen Hilfsinfrastruktur. Dies war beispielsweise bei der Tsunami-Katastrophe vor fünf Jahren nicht der Fall. Dort waren viel mehr Anlaufstellen für die Hilfe vorhanden und handlungsfähige lokale Partner vor Ort.

Inwiefern wird diese schwierige Lage zusätzlich durch Kompetenzgerangel im Verwaltungsbereich der UN-Organisationen erschwert?

Klar gibt es auch zwischen diesen Organisationen immer wieder Konflikte. Dies liegt an den zum Teil nicht klar getrennten Aufgabengebieten und der Tendenz einer jeden Organisation, ihre Kompetenzen ausweiten zu wollen. Darüber hinaus konkurriert man auch um Spendengelder und Sichtbarkeit. Hier war insbesondere das Verhältnis zwischen MINUSTAH und den anderen UN-Organisationen in der Vergangenheit nicht immer unproblematisch.

Allerdings haben wir auch beobachtet, dass angesichts von Notsituationen diese Gräben recht schnell überwunden werden können. Dies war der Fall bei einer Reihe von Wirbelstürmen im Jahr 2008 und den Aufständen im Jahr 2009. Auch in der gegenwärtigen Katastrophe auf Haiti scheint man sich auf die Gemeinsamkeiten zu besinnen und an einem Strang zu ziehen. Man könnte also durchaus sagen, dass die UNO in Krisensituationen am besten funktioniert.

Welche Aufgaben nahmen diese Organisationen in Haiti wahr, bevor die Katastrophe hereinbrach?

Die UNO ist schon seit vielen Jahren in Haiti aktiv. Hier muss man grob zwischen zwei Gruppen von UN-Akteuren unterscheiden: Zum einen die ca. 9500 Personen starke Friedensmission MINUSTAH, zum anderen die zahlreichen humanitären und entwicklungsorientierten Organisationen der UNO (z.B. WFP, UNICEF, UNDP etc.), die zusammen auch noch einmal ca. 800 Helfer stellen. Während sich MINUSTAH in erster Linie auf die Sicherheit konzentriert, sind die anderen UN-Organisationen in ihren jeweiligen Kernbereichen tätig, um insgesamt die sozio-ökonomische Entwicklung des Landes zu unterstützen: UNICEF richtet den Fokus auf Kinder, UNESCO auf Bildung, WFP und FAO auf Nahrung usw.

Behandlung in einem provisorischen Hospital der MINUSTAH.
Behandlung in einem provisorischen Hospital der MINUSTAH. UN Photo/Sophia Paris

Waren die UN-Kräfte auf solch ein Szenario vorbereitet?

Eine Katastrophe dieses Ausmaßes ist auch für die UNO Neuland. Aber es gibt gewisse erprobte Mechanismen, die bereits laufen und auch zu funktionieren scheinen. Die UNO verfolgt seit 2005 den sogenannten Cluster-Approach als Teil einer umfassenden Nothilfestrategie: Es gibt zwölf Bereiche (sogenannte Cluster) humanitärer Soforthilfe, die jeweils von einer UN-Organisation angeführt und koordiniert werden. Das WFP führt beispielsweise das Logistik-Cluster, die WHO die Bemühungen im Bereich Gesundheit und das Rote Kreuz sowie der UNHCR die Errichtung von Notunterkünften.

Alle UN-Organisationen und die meisten großen NGOs sind in diese Strategie eingebunden. Auch die Friedensmission MINUSTAH unterstützt nach Kräften und stellt vor allem ihre Logistik-Kapazitäten und militärischen Schutz zur Verfügung. Natürlich gibt es darüber hinaus noch andere Akteure, die eine wichtige Rolle bei der Koordination einnehmen, vor allem die USA. Wie gut die Abstimmung zwischen der UNO und den USA ist, lässt sich angesichts der chaotischen Lage noch nicht genau sagen. Unser Eindruck ist aber, dass es halbwegs funktioniert.

Das zerstörte Hauptquartier der UNO-Mission in Port-au-Prince, Haiti.
Das zerstörte Hauptquartier der UNO-Mission in Port-au-Prince, Haiti. UN Photo/Logan Abassi

War das Engagement der Vereinten Nationen in Haiti bis dato „ausreichend“ oder „nützlich“?

Die UNO hat große Verluste hinnehmen müssen, das hat die Organisation schwer getroffen. Insbesondere MINUSTAH hat nach dem Einsturz des Hauptquartiers in Port-au-Prince nahezu den kompletten Führungsstab verloren und vermisst noch immer zahlreiche internationale und lokale Mitarbeiter. Die UN-Organisationen, die in anderen Gebäuden untergebracht waren, sind zwar auch betroffen, aber unseres Wissens nicht so schlimm. Diese Organisationen arbeiten nach dem erwähnten Cluster-Approach zusammen. Auch MINUSTAH scheint sich neu zu sortieren und unterstützt die Bemühungen der USA und anderer UN-Organisationen nach Kräften.

Der Spiegel titelt „Haiti: Ein Land stirbt“. Ein Land, das ohnehin zu den ärmsten der Welt gehört, scheint nun völlig am Boden. Wie schätzen Sie die Zukunft Haitis ein?

Das Land ist seit vielen Jahren von der Hilfe der internationalen Gemeinschaft abhängig. In den meisten Bereichen haben die UNO oder internationale Hilfsorganisationen grundlegende Staatsaufgaben übernommen, beispielsweise MINUSTAH die öffentliche Sicherheit. Diese Abhängigkeit wird sich durch das Erdbeben sicher noch einmal drastisch verstärken. Das Land muss komplett neu erfunden werden. Ganze Ministerien und Behörden sind verschwunden und mit ihnen viele Dokumente und Akten. Der Verlust seiner Verwaltung macht jeden Staat weitgehend handlungsunfähig: Man denke nur an Grundbuchwesen, Steuereinnahmen, das Gesundheitswesen oder schlicht die Müllabfuhr – nichts funktioniert mehr.

Panzer der UN-Friedensmission im Zentrum von Port-au-Prince.
Panzer der UN-Friedensmission im Zentrum von Port-au-Prince. UN Photo/Marco Dormino

In Haiti spielt vor allem die angespannte Sicherheitslage eine wichtige Rolle. Kurzfristig kann es also nur die Lösung geben, in Zusammenarbeit mit der haitianischen Regierung eine Art Protektorat zu errichten, auch wenn man es nicht so nennen wird. Das würde bedeuten, dass zentrale Staatsfunktionen auf externe Akteure, wie beispielsweise die UNO oder einzelne Staaten, übertragen werden. Die Vereinten Nationen haben diese Rolle in der Vergangenheit schon öfters übernommen, etwa im Kosovo und in Kambodscha, allerdings mit unterschiedlichem Erfolg.

Nun stellt sich eine Frage: Wer wird diese Rolle in Haiti übernehmen, die USA oder die UNO? Auch werden andere Regionalmächte versuchen, Einfluss zu nehmen. Auf jeden Fall ist klar, dass, auch wenn der UNO die Führungsrolle zukommen sollte, die USA eine bedeutende, wenn nicht die wichtigste Rolle einnehmen werden. Nur sie haben die militärischen und finanziellen Mittel, um eine solche Aufgabe zu stemmen. Die Vereinten Nationen haben ja keine eigenen Truppen und nur begrenzte Mittel ‒ sie wären in jedem Fall auf die Amerikaner angewiesen.

Das Gespräch führte Sebastian Brauns, Südkurier.

Dr. Melanie Schreiner und Sebastian Döring forschen im Exzellenzcluster zur „Konstruktion kollektiver Identität und Dynamik organisationalen Lernens in UN-Friedensmissionen“.

jkr