Zeitkulturen - Rahmenkonzept
Zeit als Gegenstand kultureller Produktion
Die kulturelle Modellierung von Zeit zu untersuchen, bedeutet die Abkehr von der Vorstellung einer notwendigerweise für alle Akteure verbindlichen, kontinuierlich ablaufenden Zeit. Menschliche Geschichte wird nicht mehr als Ereigniskette im Takt einer auf ewig festgelegten chronometrischen Ordnung betrachtet. Vielmehr umgibt sie ein heterogenes Zeituniversum mit Übergängen und Verschiebungen, Wiederholungen und Sprüngen. Soziale Ordnung und kulturelle Sinnstiftung rekurrieren auf Strategien der Beharrung und der Diskontinuierung. Zeitordnungen werden im Zusammenspiel von Techniken und Symbolen, Institutionen und Medien, Formen der Praxis und des Wissens immer wieder neu konstituiert.
Zeitwahrnehmung unterliegt historischem Wandel. Während traditionelle Gesellschaften zeitliche Veränderung hauptsächlich als Abweichung von einer im kulturellen Gedächtnis gegenwärtig gehaltenen Vergangenheit sehen, stellen sich moderne auf kollektive Zukunftsreferenz um. Die immer neue Ausrichtung auf Zukunft ist eng mit einer fortlaufenden Neu-Adaptation gesellschaftlicher oder systemischer Vergangenheiten verbunden. Wie Zukunfts- und Vergangenheitsprojektionen sich auf dem „Umschlagplatz“ der jeweiligen Gegenwart wechselseitig beeinflussen, ist ein zentraler Untersuchungsgegenstand von „Zeitkulturen“. Darüber hinaus beschreiben „Zeitkulturen“ die operativen Bedingungen von Sinnbildungsprozessen – Bedingungen, welche die Form der Sinngenerierung und die ihr eigenen Prinzipien der Dauer, des Wandels und des Verschwindens betreffen.
Zeit in den historischen Wissenschaften
Zeit ist die Grundgegebenheit aller historisch arbeitenden Wissenschaften. Als Voraussetzung historischen Wissens wird sie indessen nur selten zum Gegenstand genuiner wissenschaftlicher Reflexion. Beispielsweise ist Reinhart Kosellecks Anregung, auf „Wiederholungsstrukturen“ zu achten, selten empirisch aufgegriffen worden. Auch die Geschichte der Historiographie könnte in diese Richtung erweitert werden. Besondere, aber selten explizit gemachte Zeitkonzepte liegen nicht nur der narrativen Geschichtsschreibung zugrunde, sondern finden sich auch in wirtschaftshistorischen Modellen des „Nachholens“. Das Problem historischer Periodisierung harrt weiterer Vertiefung, vor allem in welthistorischer Sicht: Was verstehen bzw. verstanden Zeitgenossen und Historiker unter Zäsuren, Epochenschwellen und Wendepunkten? Besondere Bedeutung kommt hier Konzepten von „Zeitgeschichte“ zu.
Aprioris des Zeitlichen
Jeder Kulturraum und jede Epoche kennt bestimmte Vorbedingungen von Zeiterfahrung, die Zeitgenossen theoretisch nicht vollständig reflexiv machen, die also im Sinne Michel Foucaults ein historisches Apriori darstellen. Dazu zählen soziale, kulturelle, technische und mediale Prädispositionen.
So bildet der Grad der gesellschaftlichen Differenzierung insofern eine Voraussetzung von Zeitkulturen, als er sowohl die Organisation von Zeit als auch die Streuung der Aussagen über das Zeitliche unmittelbar beeinflusst. In kultureller Hinsicht ist davon auszugehen, dass Krisen-, Beschleunigungs- oder auch Verlangsamungserfahrungen dem einzelnen Bewusstsein als objektiv vorhandene Herausforderungslagen erscheinen.
Das technische Apriori von Zeitkulturen schließt alle Apparate, Technologien und Medien ein, die in fundamentaler Weise Wahrnehmung und Bewirtschaftung von Zeit bestimmen. Das betrifft die vorhandenen Kommunikationsmedien ebenso wie die jeweiligen Möglichkeiten der Raumüberwindung und die Apparaturen der Zeitmessung und -ordnung im engeren Sinne. Diese Zeitapparate – klassisch: Uhren – haben ihre eigene Geschichte, die auch eine Geschichte von Zeitverständnis und Zeitmessung über die Grenzen zwischen Zivilisationen hinweg sein kann.
Diskursive Zeitordnungen
Diskurse haben ihr eigenes Zeitregime. Theologie, Rhetorik, Kunst, Wissenschaft oder Recht enthalten Zeit-Ordnungen sowohl hinsichtlich der Anordnung ihrer Gegenstände als auch der Formen der Erkenntnisbildung und Aussagenverkettung, die ihnen jeweils eigen sind. Grundsätzlich impliziert jede Wissensordnung bestimmte Arrangements hinsichtlich der Raum-Zeit-Koordinaten (Topik, Analogie, Tableau, Epigenesis, Evolution u.a.).
Was die Zeitdimension angeht, so sind drei Fragen von besonderer Bedeutung. Wie wird das Verhältnis zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit modelliert? In welcher Beziehung stehen ältere und jüngere Manifestationen desselben Diskurses? Wie ordnet das Zeitregime von Diskursen deren Datenmaterial in den beiden Zeitkoordinaten von Synchronie und Diachronie an? Bei Letzterem geht es um Operationen, die eine unüberschaubare Menge an zunächst kontingenten Daten gegen alle Wahrscheinlichkeit in eine sinnhafte Ordnung überführen.
Narrative
Die Grundoperation des Erzählens ist die Sequenzialisierung komplexer Gegebenheiten, d.h. diese in eine zeitliche Ordnung überzuführen. In der kulturellen Organisation von Zeit nehmen Narrative deshalb eine Schlüsselrolle ein. Sie verbinden das kollektive Gedächtnis im Widerstreit zwischen Prägung durch die Vergangenheit und Prägung der Vergangenheit mit der Ausgestaltung von zukunftsgerichteten Utopien oder Apokalypsen. Sie sind für die kulturelle Fabrikation von Ewigkeit zuständig und dienen unter entgegengesetzten Vorzeichen als Vehikel für Ästhetiken der Beschleunigung. Narrative organisieren einerseits Herkunft, indem sie Genealogien und Erbfolgen verwalten, und lassen andererseits im Lärm der „inventions of tradition“ Vergangenheiten dem kollektiven Vergessen anheimfallen. Selbst wo Plötzlichkeit und Ereignishaftigkeit als Einbrüche in die Zeitordnung nicht narrativ assimilierbar sind, stellen Narrative Umwegoperationen bereit, um das Undarstellbare traumatischer Erfahrungen gleichwohl kulturell präsent zu machen.
Eigenzeiten und Parallelzeiten sozialer Felder und Systeme
Zeitlichkeit unterliegt nicht nur dem geschichtlichen Wandel der Gesellschaft, sondern variiert auch zwischen den unterschiedlichen institutionellen Feldern eines gesellschaftlichen Verbandes. Soziale Systeme produzieren ihre eigene Zeitlichkeit über die Sequenz und den Takt der Ereignisse, die durch ihre institutionelle Ordnung erzeugt werden. Während klassische Ansätze sozialer Ordnung und Integration zumeist den Ort als relevante Variable behandeln, rückt gegenwärtig die zeitliche Sequenzierung als Integrationsvoraussetzung in den Vordergrund. In diesem Zusammenhang sind u.a. Konflikte zu untersuchen, die sich aus unterschiedlichen „Zeitkulturen“ und Sinnbildungsdynamiken zwischen traditionellen Bürokratien und „fließenden Institutionen“ ergeben. Beispiel für Letztere sind die globalen Finanzmärkte, die ihre Integration nicht in erster Linie über Regeln und Konventionen, sondern durch die Kommunikationsabfolgen des Prozessierstroms sowie die hierbei generierten variablen Bereichsgrenzen erzeugen.