Die Träume wandern ins Internet
Fortsetzung, 3. Seite
Globaler Medienkonsum fördert keine Werterevolution
Auch in der Provinz Marokkos, wo die virtuelle Verbindung zum Rest der Welt ebenso träge ist wie die von der Hitze geplagten Fliegen, ist das Internet zur Kontaktbörse Nummer eins avanciert: Überall sitzen Jugendliche vor den Computern, manchmal alleine, oft zu zweit oder dritt. Sie chatten auf Englisch oder Französisch mit Jugendlichen aus Europa oder den USA, geben sich der Illusion hin, dass ein Internet-Flirt zu einer Hochzeit führen könnte und damit zu einer Fahrkarte ins Glück. Oder sie surfen auf religiösen Seiten und lesen regimekritische Blogs. Sex, Religion und Politik – die drei Tabus der arabischen Welt spiegeln sich auch in den Internet-Vorlieben der Jugendlichen wider.
Im Westen haben viele lange Zeit geglaubt, im Nahen und Mittleren Osten müssten nur genügend junge Menschen den Anschluss an den Rest der Welt finden, um eine Werterevolution in Gang zu setzen und den sklerotischen Regimes zwischen Atlantik und Persischem Golf ein Ende zu bereiten. Das hat sich mittlerweile als Wunschdenken erwiesen. Globaler Medienkonsum macht junge Menschen keineswegs automatisch säkular und individualistisch, das musste auch die US-Regierung erkennen. Sie hatte 2004 mit beträchtlichem Aufwand den arabischen Fernsehsender „Al-Hurra“ („Freiheit“) ins Leben gerufen. 500 Millionen Dollar Steuergelder hat der Imagekanal bis heute gekostet, der insbesondere die Jugend im Nahen Osten ansprechen soll. Glaubt man unabhängigen Berichten, ist das Resultat ziemlich ernüchternd.
Dabei werden sich Teenager überall auf der Welt ähnlicher: Sie gucken Musikvideos, chatten mit Gleichgesinnten und verschicken SMS-Nachrichten. Sie gehen gern feiern und interessieren sich für das andere Geschlecht. Aber Unterschiede bleiben allemal. Jung, modern und religiös zu sein, schließt sich in der arabischen Welt nicht aus. Im Gegenteil haben viele arabische Jugendliche gerade aus den Mittelschichten die Religion neu für sich entdeckt. Angeführt von charismatischen TV-Predigern wie dem Ägypter Amr Khaled, suchen sie nach Möglichkeiten, sich als gläubige Muslime in der Welt von heute zurechtzufinden. Sie suchen nach eigenen Wegen, jenseits der Angebote, die Amerika und die Islamisten ihnen zu bieten haben. Der Westen ist und bleibt für sie eine lockende Verheißung – aber seine Politik lehnen die meisten ab.
Eine Nase lässt sich leichter korrigieren als ein System.
Die Folge sind Phänomene, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen: So ist „Hymen Repair“, die operative Wiederherstellung des Jungfernhäutchens, für viele junge Frauen kein Fremdwort mehr. Und Nasenoperationen scheinen unter den reicheren jungen Frauen von Beirut und Teheran so gängig zu sein wie hierzulande der Gang ins Wellness-Spa. „Eine Nase lässt sich eben leichter korrigieren als ein System“, spottet man im Nahen Osten.
Denn letzten Endes sind offen zur Schau gestellter Hedonismus und Frömmigkeit nur zwei Seiten ein und derselben Medaille: der nach wie vor bestehenden Grenzen. Nicht alle empfinden sie als Korsett, aber spüren kann sie jeder. Bücher wie der Skandal-Bestseller „Die Girls von Riad“ der 18-jährigen Saudi-Arabierin Rajaa Alsanea über vier Upper-class-Freundinnen zwischen Liebe und gesellschaftlichen Zwängen zeugen davon.