Die Träume wandern ins Internet
„Eure Generation ist mir unergründlich. Als ich jung war, war die Liebe für unser Vaterland wie eine Religion.“ Zaki el Dessouki, ein älterer Herr aus dem Kairoer Establishment, der schon bessere Zeiten erlebt hat, versteht seine junge Geliebte nicht. Sie will mit ihm auswandern, am liebsten nach Frankreich, Hauptsache weg. Diese Szene wird beinahe nebensächlich erzählt in dem Roman „Umaret Yacoubian – Das Haus Yacoubian“ des Schriftstellers Alaa Al Aswany, der nach seinem Erscheinen im Jahr 2002 für heftige Diskussionen in Ägypten sorgte. Doch für die Beziehung zwischen den Generationen in Ägypten, ja in der gesamten arabischen Welt, ist sie eine Schlüsselszene.
Sie zeigt die Perspektivlosigkeit der Jugend im eigenen Land, das Unverständnis und Desinteresse der Alten, und sie lässt sich in einer Vielzahl von Varianten nacherzählen. Etwa anhand der 16-jährigen Tahany aus dem ärmlichen Kairoer Stadtteil Imbaba: Sie träumt davon, in den USA zu leben. Am liebsten möchte sie Lehrerin werden, doch in das Bildungssystem ihrer Heimat hat Tahany kein Vertrauen. Klientelismus, gesellschaftliche Starre und ein marodes Bildungssystem machen es jungen Leuten in weiten Teilen der arabischen Welt unmöglich, ihre Träume zu verwirklichen. Wer Geld hat und Macht, für den ist es natürlich leichter. Ayman, 16 Jahre alt, aus dem ägyptischen Kerdesa sagt: „In zehn Jahren möchte ich Arzt oder Polizist sein, so dass ich in einer mächtigen Stellung bin.“
Bevölkerungsexplosion im Nahen Osten
Doch das wollen zu viele. Noch 1950 lebten in Ägypten gerade einmal 21 Millionen Menschen. Heute sind es knapp 80 Millionen, das Land am Nil ist damit Spitzenreiter unter den arabischen Ländern. Wie im gesamten Nahen Osten ist dort während der Bevölkerungsexplosion der letzten Jahrzehnte das Durchschnittsalter massiv gesunken: Jeder zweite Ägypter ist mittlerweile unter 20 Jahre alt. Und auch wenn sich die Zuwachsraten ein wenig abgeflacht haben, wird sich die Bevölkerungsspirale auf absehbare Zeit kräftig weiterdrehen: Denn eine Woge junger Leute in heiratsfähigem Alter rollt auf das Land zu. Im Jahr 2050 wird es schätzungsweise 130 Millionen Ägypter geben, während die Bevölkerung der arabischen Welt sich bis dahin verdoppelt haben dürfte, auf 600 Millionen Menschen.
Nirgendwo sonst ist die Bevölkerung so jung wie im Nahen Osten.
Möglicherweise wird die Alterspyramide der arabischen Länder dann so ähnlich aussehen wie die deutsche heute. Doch derzeit gilt das genaue Gegenteil: In keiner anderen Region der Welt sind die Bevölkerungen so jung wie im Nahen Osten. Das dramatische Wachstum steht in einem merkwürdigen Gegensatz zum Wissen über die junge Generation. Die meisten arabischen Staaten haben gar kein Interesse, zu erfahren, wie die Jugend denkt. In Ägypten beispielsweise muss bei Umfragen jede Frage dem Jugendministerium vorgelegt werden. Da ist es zur Selbstzensur nicht mehr weit.
Sex, Religion und Politik sind tabu
Der Grund für solchen vorauseilenden Gehorsam lässt sich leicht erahnen: „Die drei klassischen Tabuthemen in der arabischen Welt sind Sex, Religion und Politik“, sagt ein deutscher Repräsentant in Kairo. Sie könnten den offiziellen gesellschaftlich-religiösen Konsens in Frage stellen, auf dem die meisten dieser Staaten beruhen. Da die Politiker gleichzeitig aber vermuten, dass die Jugendlichen sich den überalterten Regimen und den konservativen Religionsgelehrten mittlerweile stark entfremdet haben, wollen sie es lieber gar nicht so genau wissen. Noch lassen sich Wahlen schließlich auch so gewinnen.
Der politische und gesellschaftliche Stillstand bewegt immer mehr Jugendliche dazu, andere Wege der Partizipation zu suchen – islamische zumal. Je nachdem, welche Messlatte man anlegt, erscheint Ägyptens Jugend damit stark politisiert – oder sehr unpolitisch. Ein Student charakterisiert seine Generation so:
„Die meisten Jugendlichen wollen doch nur einen guten Job, ein anderes Ziel haben sie nicht. Sie sitzen herum und wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen.“
Die Soziologin Mona Abaza von der Amerikanischen Universität in Kairo sieht das differenzierter. Sie glaubt, dass sowohl die Politisierung der Mittelklasse als auch die apolitische Haltung breiter Bevölkerungsschichten mit der zunehmenden Frustration der Jugend zu erklären seien. „Die jungen Leute in Ägypten können nicht mehr träumen“, sagt Abaza. Der einzige Traum, den sie noch hätten, sei, das Land zu verlassen. Oder aber sie wendeten sich den Islamisten zu.