Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Die Träume wandern ins Internet

Fortsetzung, 4. Seite (Schluss)

Die Klassenunterschiede verschärfen sich

Ein Gebäude des International College Beirut
International College Beirut

Doch solche Probleme muss man sich erst einmal leisten können. Es scheint nämlich, als würden sich die Klassenunterschiede in der arabischen Welt nicht auflösen, sondern vielmehr noch verschärfen. Mehr denn je entscheidet die Herkunft über die Aussicht auf Bildung, Wissen und Erfolg. Der Libanon etwa rühmt sich gerne, das toleranteste Land in der arabischen Welt zu sein, ein Land, in dem akademische Freiheit groß geschrieben werde und das Schulwesen weit entwickelt sei.

Für diejenigen, die es sich leisten können, stimmt das auch: 5000 US-Dollar müssen die Eltern der Schüler des Beiruter International College pro Schuljahr berappen. Dafür dürften die Schüler auch über heiße politische Themen reden, erzählt ein Lehrer stolz – Tabus gebe es nicht. Die 17-jährige Lamis stimmt zu. Früher war sie auf einer konfessionellen Schule im Schuf-Gebirge. „Wer dort über Politik geredet hat, wurde der Schule verwiesen“, sagt sie. Wichtiger als der freie Umgangston ist den Schülern – oder ihren Eltern – aber, dass die Eliteschule ihnen für die Zukunft alle Türen öffnet: Lamis will Ernährungswissenschaften studieren, natürlich an der benachbarten American University of Beirut für rund 10 000 Dollar jährlich. Viele junge Männer streben Ingenieurberufe an, um dann – wie ihre Väter – lukrative Jobs in den Golfstaaten zu ergattern.

Neuer Schwarzmarkt Bildung

Kein Wunder, dass der Kampf um die Ressource Bildung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln geführt wird. Welche Fächer junge Ägypter studieren dürfen, hängt von ihrer Schulabschlussnote ab. Die Bedeutung der Abschlussprüfungen nach dem elften und zwölften Schuljahr hat einen wahren „Schwarzmarkt der Bildung“ entstehen lassen. Ein Großteil der Schüler muss private Nachhilfestunden nehmen, denn die Lehrer an den staatlichen Schulen sind nicht länger willens oder in der Lage, ihren Bildungsauftrag zu erfüllen. Überfüllte Klassen mit sechzig oder mehr Schülern erschweren den Unterricht, und nicht zuletzt lockt auch das Geld, denn vom Staat erhalten die Lehrer zwischen 120 und 450 ägyptische Pfund im Monat, umgerechnet nicht einmal 50 Euro. Durch privaten Nachhilfeunterricht können sie bis zu 10 000 Pfund verdienen, steuerfrei und illegal.

So übergehen viele Lehrer im regulären Unterricht absichtlich Lehrplaninhalte, um ihre Schüler dann dazu zu drängen, bei ihnen Privatunterricht zu nehmen. Wer das Angebot nicht annimmt, muss damit rechnen, schlechtere Noten zu bekommen oder auf die hintersten Bänke im Klassenraum verbannt zu werden. Die Naturwissenschaften stehen in der Hierarchie der Studienfächer ganz oben, dementsprechend ist in diesen Fächern private Nachhilfe besonders teuer. Wie viel Nachhilfe ein Schüler in Anspruch nehmen kann ist von der Finanzkraft der Eltern abhängig, die sich nicht selten verschulden, um ihren Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Von der Chancengleichheit, die zu Nassers Zeiten einmal angestrebt worden ist, kann keine Rede mehr sein. Daher verwundert es nicht, dass islamisch finanzierte Schulen, denen der Makel der Korruption nicht anhaftet, großen Zulauf verzeichnen.

Im arabischen Nahen Osten gilt: Wer kann, wandert aus.

Bereits der erste „Arab Human Development Report“ von 2002 bezeichnete die mangelnde Chancengleichheit im Bildungssektor als drängende Herausforderung für die arabischen Staaten. Im arabischen Nahen Osten gilt: Wer kann, wandert aus – ein Viertel eines Akademikerjahrgangs soll der „Brain drain“ umfassen. Und trotzdem ist die Arbeitslosigkeit unter den verbleibenden Jugendlichen hoch, und mit ihr die Frustration. Etwa jeder Vierte hat keinen Job. In der Konsequenz wird es selbst für junge Männer mit guter Ausbildung immer schwerer, eine Familie zu gründen. Denn Heiraten kostet. Auf der anderen Seite stellt der Trauschein für die allermeisten immer noch die einzige Möglichkeit dar, auf gesellschaftlich akzeptable Weise Umgang mit dem anderen Geschlecht zu haben.

So mancher Beobachter hält die Situation der Jugend deshalb für „soziale und politische Zeitbombe“. Welche Gefahr den geplatzten Träumen innewohnt, verdeutlicht eine weitere Szene aus dem Roman „Das Haus Yacoubian“: Der Sohn des Hauswächters darin heißt Taha, aber er könnte genausogut Rony oder Ayman heißen. Taha träumt davon, Polizeioffizier zu werden. Als ihm diese Karriere verwehrt wird, weil sein Vater eben nur Hauswächter ist, schließt er sich einer militanten Islamistengruppe an. „Dieses Beispiel illustriert sehr deutlich die Sackgasse, in der sich die ägyptischen Jugendlichen befinden“, sagt die Soziologin Mona Abaza. Dann spricht sie über die Terroranschläge, die Ägypten in den vergangenen Jahren immer wieder erschüttert haben. Und sie sagt einen Satz, der die Brisanz des Themas in aller Deutlichkeit vor Augen führt: „Auch die Terroristen sind jung.“

Moritz Behrendt arbeitet als freier Journalist für „Deutschlandradio Kultur“.

Porträt Christian H. Meier

Christian H. Meier promoviert im Doktorandenkolleg „Zeitkulturen“ über „Wandel und Beschleunigung. Zeitgefühl in Ägypten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert“.
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Der Artikel erschien zuerst in Polis. Report der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung, 4/2008. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autoren.