Die Immobilienblase von Münsterburg
Gottfried Keller unterscheidet guten von bösem Kapitalismus
Von Patrick Eiden
Die Realität, die uns in den Romanen und Novellen des literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts entgegentritt, ist nur noch partiell unsere. Die Texte dieses Realismus, der auch einmal als „bürgerlicher“ apostrophiert wurde, sprechen von einer Wirklichkeit, die uns in ihrer kleinräumlichen Überschaubarkeit nicht anders denn idyllisch erscheinen kann. Die Aktualität des Romans Martin Salander − eines weithin vergessenen Alterswerks des großen Schweizer Realisten Gottfried Keller von 1886 − besteht aber nun gerade in diesem Zug zum Idyllischen: aktuell im Hinblick auf die globale Finanzkrise des Jahres 2008, aktuell aber vor allem im Hinblick auf die Reaktionen, die diese Krise politisch und publizistisch hervorgerufen hat.
Das Reale − sagen wir: die in letzter Zeit viel beschworene „Realwirtschaft“ − bestimmt schon seit längerem unsere soziale Wirklichkeit nicht mehr.
Der kellersche Realismus vermag das Begehren nach einer soliden, überschaubaren Wirklichkeit nicht nur zu befriedigen; er artikuliert dieses Begehren zuallererst und zeigt so, dass das Vorhandensein einer solchen Realität alles andere als selbstverständlich ist. Das Reale − sagen wir: die in letzter Zeit viel beschworene „Realwirtschaft“ − bestimmt schon seit längerem unsere soziale Wirklichkeit nicht mehr, in Gestalt dematerialisierter Finanzströme, Derivate und Futures ist diese vielmehr zum Spielball eines in jeder Hinsicht Unberechenbaren geworden: Das ist die Urangst, aus der schon Kellers Martin Salander einen Ausweg sucht und die in der aktuellen Krise mit den immer noch gleichen Rezepten bekämpft werden soll. Dass heute dabei weithin noch als „Realpolitik“ gilt, was schon in Kellers spätem Realismus als nostalgisch-regressive Phantasie sich zu erkennen gibt, das erst verleiht diesem Realismus seine unerwartet kritische Kraft.
Die Szenerie des Martin Salander ist von Anfang an global und krisenhaft: der Titelheld kehrt nach sieben Jahren in Brasilien ins heimische Münsterburg zurück. Ausgezogen in die weite Welt aber war Salander aufgrund einer geplatzten Bürgschaft: Sein Freund Louis Wohlwend hatte sich in „eine folgenreiche Unternehmung gewagt, welche bedeutenden Kapitaleinsatz verlangte, während sein Bankkredit durch das laufende Geschäft schon vollständig in Anspruch genommen war“. Schwebend am „kritischen Wendepunkt“ eines Liquiditätsengpasses, kann Wohlwends Geschäft nur durch frisches Geld gerettet werden. Dieses aber wird durch einen Kredit zugeschossen, der sich auf Salanders Bürgschaft stützt. Nach kurzer Zeit erklärt sich Wohlwend für zahlungsunfähig, und Salanders Bürgschaft wird fällig. Dieser liquidiert sein eigenes kleines Geschäft, lässt die drei kleinen Kinder mit seiner Frau Marie zurück und geht nach Brasilien, um dort ein Vermögen zu gewinnen.
Wenn es möglich wird, von einem Konkurs zu leben, dann gerät eine fundamentale Vorstellung von ehrlichem Wirtschaften in Schieflage.
Während Salander für die Bürgschaft alles aufgibt, kann Wohlwend „noch Jahr und Tag in und von dem Konkurse“ leben. Wenn es aber möglich wird, von einem Konkurs zu leben, dann gerät eine fundamentale Vorstellung von ehrlichem Wirtschaften in Schieflage; auf der so vorgezeichneten abschüssigen Bahn nimmt der Roman zunehmend Fahrt auf. Denn Wohlwend hat seinen Konkurs nicht nur prächtig überstanden, er ist sogar schon wieder groß im Geschäft, oder richtiger: Er lebt vom nächsten Konkurs. Als Teilhaber des Bankhauses „Schadenmüller und Comp.“ ist er genau die Adresse, an die Salander − unwissentlich − aus Rio de Janeiro per Anweisung sein Vermögen geschickt hat. „Schadenmüller und Comp.“ aber ist zahlungsunfähig.
Salander ist von neuem pleite, und er ist von neuem Wohlwend auf den Leim gegangen, dieses Mal aber ist die Intransparenz des Geschäfts wesentlicher Bestandteil des ganzen Vorgangs. Niemand weiß, so versichert ein eingeschalteter Notar, was mit dem Geld geschehen ist: „Ich fürchte, viele anvertraute Gelder sind ins Wasser gefallen, wo es am tiefsten ist.“ Wohlwend aber macht die Unübersichtlichkeit der Situation zu einem Argument für die (relative) Normalität des Geschäftsvorgangs: „Unsere Geschäfte haben sich leider durch zu raschen Aufschwung so sehr ausgedehnt, dass ich den Überblick momentan nicht zur Verfügung habe.“
Einen „Überblick“ aber wird so schnell niemand erhalten, weil „wir uns in einer unversehens hereingebrochenen Krise befinden, welche hoffentlich vorübergehend ist!“. Wohlwend hat gelernt, in und von dem Umstand zu leben, dass im entwickelten Finanzkapitalismus wegen immer „vorübergehender“ Krisen dauerhaft die Möglichkeit getrübt bleibt, die eigenen Geschäftsvorgänge ganz zu durchschauen. Das Geld muss fließen, das ist seine Bestimmung; vom Fließen muss der Banker leben. Ob das Geld je seinen rechtmäßigen Bestimmungsort erreicht oder nicht, kann und muss ihm egal sein.
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