Die Immobilienblase von Münsterburg
Fortsetzung, 4. Seite (Schluss)
In Kellers Roman blamiert sich diese verkürzte Sichtweise auf mindestens zwei Arten. Auf der einen Seite wird deutlich, dass die verzweifelt gesuchte Unterscheidung zwischen einem guten und einem schlechten Kapitalismus schon bei der Titelfigur nicht durchzuhalten ist. Je mehr Salander darauf beharrt, dass in seinem Geschäft alles mit rechten Dingen zugehe, umso mehr schiebt sich seine Zeit in Brasilien als dunkler Fleck ins Bild. Bei seinem zweiten Aufenthalt dort hat er Land gekauft, auf dem er Tabak pflanzen lässt. Auf den Plantagen Brasiliens aber herrscht Sklaverei; erst 1888 wird diese abgeschafft. Der ökonomischen Situation entsprechend ist im Text durchgängig von „Kolonien“ die Rede, obwohl Brasilien politisch schon seit 1822 unabhängig ist.
Zu einer Radikalisierung ihrer Kritik am Kapitalismus aber reicht diese Erkenntnis weder bei Keller noch bei seinen Protagonisten hin.
Die Sklaverei aber, die den Reichtum des guten Demokraten Salander begründet, sucht die Familie als Gespenst heim. Angesichts ausgreifender bildungsdemokratischer Pläne ihres Mannes etwa spottet Marie Salander, die Schweiz müsse sich bei einem „Kriegszug“ nach Übersee ein „Heer von Arbeitssklaven“ beschaffen, damit die Schweizer Bauernsöhne bis zu ihrem zwanzigsten Jahr in der Schule bleiben können. Dass es irgendwo (noch) Sklaverei gibt und dass von dieser das eigene Wohlleben abhängt, diese undeutliche Erkenntnis werden die Salanders nicht mehr los. Zu einer Radikalisierung ihrer Kritik am Kapitalismus aber reicht diese Erkenntnis weder bei Keller noch bei seinen Protagonisten hin.
Auf der anderen Seite blamiert sich die didaktisch so hartnäckig angestrebte Unterscheidung zwischen dem guten und dem schlechten Kapitalismus dadurch, dass ihre Darstellung ästhetisch scheitert. Wenn Keller gegen die „Zeitkrankheiten“ ausgerechnet Mäßigung, Orientierung am Gemeinwohl und Rückbesinnung auf alte Werte predigt, dann wirkt dies im Roman schlechterdings schal und hölzern. In einem Gespräch zieht der alte Salander seinen Sohn Arnold zu Rate, „ob nicht die Geschäfte, die Unternehmungen bei so befriedigendem Gange auszudehnen und ein gewisser Aufschwung zu wagen sei“. Arnold erklärt, dass die Geschäfte „hart an der Grenze“ stünden, „wo man, um Mehreres zu tun, einen Teil des Gewonnenen, vielleicht schließlich alles aufs Spiel setzen muß“. Dies setzt nun bei den beiden nicht etwa Wagemut frei, sondern Behäbigkeit: Es stünde ihnen insgesamt besser an, so Arnold, „in schlicht bürgerlichen Verhältnissen und Gewohnheiten“ zu bleiben.
Die Schlichtheit dieses Ratschlusses wird auch im Fortgang der Handlung nicht attraktiver werden. Der Roman wird stattdessen immer didaktischer, ohne dass die vertretene Lehrmeinung − die Keller seinen Protagonisten zudem ziemlich grob in den Mund legt − in irgendeiner Weise ernsthaft angefochten würde. Das ästhetische Scheitern verdichtet sich schließlich in der letzten Szene des Romans zu einer unglücklichen Allegorie der Mäßigung: Bei der Tischgesellschaft, die Arnold für seine Freunde veranstaltet, bleibt alles so in den Bahnen der Vernunft, dass der Sohn sich nach ihrem Ende mit der Ankündigung zu Bette begibt, er wolle „noch ein Stündchen lesen“.
Wie kommt es, dass wir heute, etliche Krisen später, keinen Deut weiser sind?
Da dieses didaktisch gemeinte Bild so unbefriedigend bleibt, muss der Roman in seinen letzten Abschnitten mit einem Exzess an Missgunst gegenüber Wohlwend nachkarten: „So geriet er zuletzt in einen unerträglichen Zustand der Ungewißheit und verlor gänzlich sein dummes Selbstvertrauen. Er räumte den Platz, um anderwärts das Nichts zu finden, das ihm beschieden war.“ In einem finalen Exorzismus wird der schlechte Kapitalist mit einem „Blitzzuge“ aus der Stadt gejagt. Allein, es will nichts Gutes zurückbleiben, das irgendwie erstrebenswert erschiene.
Wie kommt es, dass wir heute, etliche Krisen später, keinen Deut weiser sind? Über eine Verteufelung der bösen Manager und einen verzweifelten Glauben an das eigentlich Gute im Kapitalismus sind wir nicht hinaus. Während diese ostentative Einmütigkeit nach kurzer Zeit nur noch einen Dämmerzustand erzeugt, beweist Kellers Realismus seine Wahrheit noch im Scheitern. Wenn hier mit Literatur Ideologie produziert werden soll − und man wird die personifizierende „Reinigung“ des Kapitalismus so nennen müssen −, dann verweigert diese Literatur zugleich der Ideologie ihre ästhetische Abrundung. Der kellersche Realismus scheitert eher, als dass er sich auf die heute wie damals kurrente „Realpolitik“ zurechtstutzen ließe.
Und dabei lässt sich selbst die kellersche Ideologie noch rational nachvollziehen: Sie speist sich einerseits aus der Dignität einer gerade untergegangenen „moral economy“, die für den demokratischen Achtundvierziger-Revolutionär Keller noch eine gelebte Erfahrung darstellte, und sie soll andererseits der aufkommenden sozialistischen Bewegung entgegentreten.Wo aber wäre der Erfahrungshintergrund für die heutige Ideologieproduktion? Glaubt wirklich jemand, dass es in den siebziger oder achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts oder bis vorgestern einmal einen „menschlicheren Kapitalismus“ gegeben hätte? Und eine antagonistische Bewegung, deren Forderung nach einer Systemalternative abgewehrt werden müsste, ist gegenwärtig auch nicht in Sicht.
Die aktuelle Ideologie scheint freischwebend und zugleich panisch nur noch verhindern zu wollen, dass irgendwer aus dem gefeierten Konsens ausschert. Dagegen bleibt einstweilen nichts, als darauf zu beharren, dass die nun allerorten aus dem Hut gezauberten neuen „Ethiken“ und „Werte“ schon bei Gottfried Keller kalter Kaffee waren.
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