Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

„Olé olé! Yeah yeah!“

Christian H. Meier

Nichts freut den Geisteswissenschaftler mehr, als die Anwendbarkeit auch abgelegenerer Forschungsansätze an lebensnahen Beispielen demonstrieren zu können. Die Relevanz der Kreativsubjektivität normgenerierender Narrative im Hinblick auf kulturelle Grundlagen von Integration mag sich dem Fachmann unmittelbar erschließen; die Öffentlichkeit möchte aber meistens doch lieber wissen, wie es denn nun mit dem Islam und dem Westen weitergeht oder warum die Banane nicht mehr so krumm ist wie früher. „Kulturell codiert“, möglicherweise, aber vorher müssten wir uns vielleicht doch noch einmal etwas genauer die Epistemologie der Banane anschauen.

4-4-2 und 4-2-3-1 harren dringend einer systemtheoretischen Erörterung.

Dabei wäre es doch so einfach. Das wissenschaftsvermittelnde Potenzial gesellschaftlicher Großereignisse wird immer noch nicht hinreichend genutzt. Die Fußball-Europameisterschaft etwa böte schon bislang Material für Forschungsanträge zuhauf: Auf den ersten Blick komplizierte Sätze wie „Soziale Ordnung ist ein in mehrfacher Hinsicht voraussetzungsreiches und unwahrscheinliches Phänomen“ (Quelle) leuchten dem Laien sofort ein, wenn man sie auf das Spiel der Deutschen gegen Kroatien überträgt. 4-4-2 und 4-2-3-1 harren dringend einer systemtheoretischen Erörterung, und auch die Semiotik des Bildausfalls, seit 1986 eigentlich für obsolet erklärt, erlebt als Forschungsthema eine plötzliche Renaissance. Die narrative Modellierung des Trainerrauswurfs (Arbeitstitel: Ruhepuls und Gesellschaft) wiederum wäre eine willkommene Ergänzung der Konstanzer Kulturtheorie (Stichwort „imaginäre Prozesse“), aber auch als Erweiterung der Forschungsgruppe Konfliktgeneratoren denkbar. Man sieht: Vieles ist möglich, solange wir als Team auftreten.

Meine eigenen Forschungsthemen haben mehr mit Zeit sowie mit Religion zu tun, insbesondere mit dem Islam. Als bisheriger Höhepunkt in dieser Hinsicht hat natürlich zweifellos das Spiel Deutschland–Türkei zu gelten. In den Spielen zuvor hatte das türkische Team beispielhaft vorgeführt, was „kulturelle Modellierung von Zeit“ bedeuten kann. 90 (oder 120) Minuten sind eben auch nur soziale Konstrukte, die individuell aushandelbar sind, und selten haben späte Tore den Satz, Zeitordnungen würden „im Zusammenspiel von Formen der Praxis immer wieder neu konstituiert“, so wahr gemacht. Oder, in den Worten meines Fußballfreundes Özgür, per SMS nach dem Spiel gegen Tschechien übermittelt: „Özgür schreit olé olé olé olé olé olé olé olé olé olé olé olé olé olé“.

Nächstes Spiel, nächstes Glücksmoment. Während die Deutschen gegen Portugal in schneller Abfolge „Krisen-, Beschleunigungs- und Verlangsamungserfahrungen“ durchlebten – ein weiteres klassisches Thema der „Zeitkulturen“ –, geriet die Türkei in ein Elfmeterschießen, das eine ganze Forschergruppe beschäftigen könnte. Mit Erfolg:

„Yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah yeah“,

smste Özgür, polyglott wie immer.

Last-Minute-Türken gegen Panzer-Deutsche!

Dann das Halbfinale. Last-Minute-Türken gegen Panzer-Deutsche! Obgleich – aus den schlechten Erfahrungen vor dem Polen-Spiel (Lernen aus der Geschichte!) heraus – ein publizistischer Nichtangriffspakt zwischen den führenden Boulevardblättern geschmiedet wurde, konnte die „Bild am Sonntag“ es doch nicht unterlassen, den Zukunftshorizont zumindest ein Stück weit abzustecken: „Mittwoch weinen alle Türken“. Wirklich alle? Erdoğan-Rede hin, Integrationsgipfel her – jetzt mussten alle noch einmal Farbe bekennen, und jeder verfügbare Deutschtürke wurde vor die Mikrofone gezerrt, um seine persönliche Integrationsbilanz in Sachen Fußball zu ziehen. Özgür löste das Problem auf seine Art und wünschte allen seinen Freunden vor dem Spiel viel Glück: „auf dass wir gewinnen! denkt an die letzte minute!“

Das taten wir dann auch, vor allem aber Philipp Lahm. Ergebnis: Die Deutschen außer sich vor Freude, die Türken ziemlich geschockt. Freilich ließe sich auch ihnen unter Verweis auf Clusterthemen Trost spenden. Denn wenn „Plötzlichkeit und Ereignishaftigkeit als Einbrüche in die Zeitordnung nicht narrativ assimilierbar sind, stellen Narrative Umwegoperationen bereit, um das Undarstellbare traumatischer Erfahrungen gleichwohl kulturell präsent zu machen“. Aber man muss es auch nicht übertreiben. Blick aufs Mobiltelefon: „Gratulation. Ein schönes spiel. Ich wünsche viel glück im finale. Fast... Aber nur fast!“

Porträt Christian H. Meier

Christian H. Meier promoviert im Doktorandenkolleg „Zeitkulturen“ über „Wandel und Beschleunigung. Zeitgefühl in Ägypten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert“.
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