Was ist tabu?
Veranstaltungsbericht von Claudia Marion Voigtmann
Gerade Tabubrüche, so sagte der Konstanzer Literaturwissenschaftler Michael Neumann in seiner Einführung, ziehen das Bedürfnis mit sich, über sie zu reden. Das wiederum sei ein Indiz dafür, wie wichtig ein gesellschaftliches Einverständnis darüber sei, „was in bestimmten Situationen gerade nicht geht, was gewissermaßen gefährlich ist, weil es den allgemein akzeptierten Rahmen zu sprengen droht“. Neumann verglich Tabus mit einem gesellschaftlichen Koordinatensystem, das auch die Kommunikation in Form bringen wolle, einem „kulturellen Raster stabilisierender Gebote und Überzeugungen, die der menschlichen Interaktion eine bestimmte Richtung zu geben versuchen“.
Doch was ist nun ein Tabu?
Hartmut Schröder, Professor für Sprachgebrauch und Therapeutische Kommunikation der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (O.), unterschied das ethnologische Verständnis von Tabu als Verbot, bestimmte Handlungen auszuführen oder geheiligte Personen oder Gegenstände zu berühren, von der bildungssprachlichen Bedeutung. Damit meinte er, dass es sich innerhalb einer Gemeinschaft quasi von selbst verbietet, über bestimmte Dinge zu sprechen oder bestimmte Dinge zu tun. Solche Tabus beziehen sich auf zentrale Werte einer Gesellschaft. Neuerdings, so Schröder, werde Tabu häufig im negativen Sinne verwendet, als etwas Überlebtes, nicht mehr in die Zeit Passendes.
Wo verläuft die Grenze zwischen Verbot und Tabu?
„Verbote können und müssen in der Regel – anders als Tabus – formuliert und auch begründet werden; denn ein Verbot bezieht sich nicht auf die Ausformulierung, sondern es erfordert geradezu die Versprachlichung. Tabus hingegen setzen voraus, dass Mitglieder einer Gesellschaft aufgrund ihrer Sozialisation wissen, wo die Grenzen des Machbaren und Sagbaren verlaufen.
Jeder muss dabei von sich aus wissen, dass etwas tabu ist, sich bestimmte Sachen quasi von selbst verbieten, ohne dass es nötig ist, darüber explizit zu kommunizieren. Kommunikation und Begründung wären bereits ein Tabubruch.“
Sprachtabus markieren paradoxerweise etwas, was eigentlich gar nicht oder nur unter Einhaltung bestimmter Bedingungen kommuniziert werden soll. Sie äußern sich, indem etwas verschwiegen wird, euphemistisch umschrieben oder anderweitig umgangen wird. Wie andere Tabus sind auch Sprachtabus kontextabhängig, darauf weist die Ethnologin Tanja Thielemann hin, und können sich auch wandeln. Dies gelte auch für die Umschreibungen von Tabus:
„Früher haben wir in Deutschland ganz selbstverständlich von Ausländern gesprochen. Das wurde später mit ‚Gastarbeiter’ umschrieben. In jüngerer Zeit sollte man ‚Mitbürger mit Migrationshintergrund’ sagen, und selbst das ist heute teilweise überholt“, gab sie als Beispiel.
Warum folgen wir Tabuisierungen?
Die Nachwuchswissenschaftlerin erklärte dies mit dem menschlichen Bedürfnis nach Identität, die mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und der Rolle, die man in dieser spiele, zusammenhänge. „Tabubrüche bergen ein Risiko: Man riskiert, aus seiner Rolle zu fallen und deshalb aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden und damit Teil der eigenen Identität zu verlieren.“
Beide Referenten waren sich einig, dass Tabus eine bedeutende Funktion für eine Gemeinschaft erfüllen, eine „wichtige Entlastungsfunktion“, wie Schröder es nannte, denn keine Gemeinschaft könne alles explizit regeln oder verbieten, was unterlassen werden soll.
Hierauf entgegnete die Staatsrechtlerin Sophie Schönberger in der anschließenden Diskussion, die Meinungsfreiheit sei doch geradezu das Fundament unserer Demokratie. „Der verfassungsrechtliche Grundansatz ist, dass Tabus als solche nicht bestehen, sondern dass über alles geredet werden darf“, erklärte sie.
„Die Meinungsfreiheit garantiert das. Und wenn von staatlicher Seite im Einzelfall Einschränkungen gemacht werden – es muss ja auch nicht alles gesagt werden dürfen –, dann garantiert die Meinungsfreiheit insbesondere auch, dass solche Verbote zum einen rational begründbar sein müssen und zum anderen nicht an der Meinung als solcher ansetzen dürfen.“
Die Publikumsdiskussion verhandelte angeregt die Bedeutung von Verboten, Tabus und ihrer Wächter aus juristischer, kultur- und sprachwissenschaftlicher Perspektive.
Über die Referent/innen
Der Germanist und Literaturwissenschaftler Dr. Michael Neumann ist akademischer Mitarbeiter (Postdoc) des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“, wo er im zu „Die Offenbarung des Himmels. Astronomisches Wissen und literarische Ordnung“ forscht.
Prof. Dr. Hartmut Schröder lehrt seit 1994 Sprachgebrauch und Therapeutische Kommunikation an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (O.). Er ist Direktor des Steinbeis Transfer-Instituts Therapeutische Kommunikation und integrierte Therapie Berlin.
Die Ethnologin Tanja Thielemann promoviert am Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ zu „Doing Diversity – Eine vergleichende Ethnographie von Diversity Management in deutschen und französischen Organisationen“.
Über die Veranstaltungsreihe
Im „Foyer Forschung“ bringen der Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ und das Kulturwissenschaftliche Kolleg Konstanz öffentlich brisante Wissenschaftsthemen in das Foyer der Spiegelhalle. (In Kooperation mit dem Theater Konstanz)
Die Termine
Digitale Gesellschaft
Juni 2018
Autorität und Widerstand
Januar 2018
Populismus – gefühlte Demokratie?
April 2017
Tabus – unausgesprochen stark
November 2016
Abschiebung. Bewegt Menschen
April 2016