Protestbewegungen in Polen: historische Erfolge und aktuelle Grenzen
Nachgespräch zum Foyer Forschung „Autorität und Widerstand. Von Bürgerprotesten und ihrer (Ohn)Macht“
Sehen Sie als Historiker der Zeitgeschichte Osteuropas aktuelle Protestbewegungen mit anderen Augen?
Peters: Man kann schon sagen, dass die Bilder von Protesten wie gegen die Justizreform in Polen ein gewisses Déjà-vu auslösen, da die Menschen auf denselben Straßen und Plätzen demonstrieren wie vor 30 Jahren. Protestbewegungen gegen die aktuelle PiS-Regierung beziehen sich außerdem ganz explizit auf die Protest- und Widerstandstraditionen gegen den Staatssozialismus in den späteren 70er- und in den 80er-Jahren in Polen. Das heutige „Komitee zur Verteidigung der Demokratie“ verweist schon in seinem Namen auf das „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter“, das sich Ende der 70er-Jahre in der polnischen Intelligenz gebildet hat und die erste offen oppositionelle Gruppierung im staatssozialistischen Polen war.
Inwiefern beeinflussen Geschichte und Erinnerung aktuelle Protestbewegungen?
Peters: Die historische Erinnerung und Selbstvergewisserung spielt in Polen eine sehr ausgeprägte Rolle. Das gilt allerdings für beide Seiten des politischen Spektrums: für die Protestbewegung, die explizit Bezug auf die Traditionen der antikommunistischen Oppositionsbewegung nimmt, aber auch für die Anhänger der Regierung und die politische Rechte im weitesten Sinne. Diese setzt seit einigen Jahren ebenfalls auf Straßenproteste, beispielsweise an Gedenktagen, um ihr politisches Milieu zu konsolidieren. Man denke an die jährlichen Unabhängigkeitsmärsche von Rechten bis Rechtsextremen anlässlich des Unabhängigkeitstages am 11. November.
Historische Selbstverortung dient regierungsnahen wie -kritischen Gruppen zur Mobilisierung, aber auch zur Positionierung im aktuellen Geschehen. Beide präsentieren sich gern als Erben der Proteste der Gewerkschaftsbewegung Solidarność 1980/81, die man objektiv als größte Massenbewegung in der jüngsten europäischen Geschichte bezeichnen kann. Auch an die späteren Proteste 1988, die zum Runden Tisch und damit auch zum Fall des Kommunismus geführt haben, knüpfen beide politischen Lager gerne an.
Wurde in Polen also eine Erfolgsgeschichte des Protests geschrieben?
Peters: Dass dieser Widerstand gegen den Staatssozialismus im Prinzip eine Erfolgsgeschichte war, darüber ist man sich einig. Und die Polen würden sich wünschen, dass diese Geschichte ihrer nationalen Selbstbefreiung und ihrer Vorreiterrolle für die Wende im Ostblock auch außerhalb des Landes stärker wahrgenommen würde. Bei der Frage, inwiefern dieser Widerstand dann tatsächlich zu einer erfolgreichen Revolution geführt hat, scheiden sich jedoch die Geister. Der Systemwechsel 1989 wurde nicht von unten gesteuert, sondern als Elitenkompromis top-down umgesetzt. Die politischen Rechten argumentieren, dass mit dem Kommunismus unzureichend abgerechnet wurde. Die liberalen Eliten der demokratischen Opposition hätten sich über die Köpfe der Nation hinweg mit den Kommunisten zu diesem Kompromiss bereit gefunden. Und Mitglieder der PiS-Regierung – aber auch konservative Historiker – erklären, erst mit ihrer Machtübernahme 2017 sei der Kommunismus in Polen wirklich beendet worden.
Wie werden und wurden Proteste in den Medien dargestellt?
Peters: Wenn man auf die offiziellen Medien schaut, sowohl in der spätsozialistischen Zeit als auch heute, kann man zwischen einer grundsätzlichen Sicht auf Proteste als legitimer Ausdruck von bürgerschaftlichem, auch demokratischem Engagement und den Extremen unterscheiden. Auch die polnischen Kommunisten haben sich sehr positiv auf die polnische Freiheitsbestrebung bezogen, die auf den Kampf gegen die nationale Unfreiheit im 19. Jahrhundert zurückgeht. Proteste, die von vermeintlichen ‚Extremisten‘ ausgingen, wies man dagegen schon damals mit der Argumentation zurück, diese würden Demonstrationen für ihre eigenen politischen Machtinteressen instrumentalisieren.
Zu Beginn der Regierungszeit der PiS wurden gerade die öffentlichen Massenmedien, also Fernsehen und Radio, stark von kritischen Mitarbeitern gesäubert. Ähnlich wie damals werden Proteste einerseits auf den positiven Nationalcharakter der widerständigen Polen zurückgeführt. Andererseits heißt es, die sogenannte ‚totale Opposition‘ würde Demonstrationen für ihre eigenen Zwecke missbrauchen. Das wird schnell so gedeutet, dass es die nationale Einheit gefährde. Seit die EU wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit gegen Polen ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat, wird jede Positionierung, die nicht der polnischen Regierung den Rücken stärkt, sofort als nationaler Verrat denunziert.
Beeinflussen negative Medienberichte das Protestverhalten der Menschen?
Peters: Nicht unbedingt. Protestbewegungen und ihre Verteufelung, sei es durch negative Presse oder Politiker, schaukeln sich gegenseitig hoch. Wenn beispielsweise Jarosław Kaczyński sagt, es würde Polen der besseren und der schlechteren Sorte geben, die einen seien auf seiner Seite, die anderen protestierten gegen ihn, dann mobilisiert das die Menschen und führt sicherlich auf beiden Seiten zu einer Verstetigung dieser Protestbewegungen. Insofern festigt sich eine zunehmende Polarisierung und Spaltung in der polnischen Gesellschaft.
Wir haben in den letzten paar Jahren eine ganze Reihe von Protestbewegungen in Polen gesehen: Erst gegen die Übernahme des Verfassungsgerichts durch regierungsnahe Richter, dann gegen die Pläne, das Abtreibungsrecht zu verschärfen, und schließlich gegen die Gleichschaltung des Justizsystems. Das sind alles Themen, die bestimmte Gruppen in der Gesellschaft, vor allem die liberalen, gebildeten Eliten, angesprochen und mobilisiert haben. Das Problem dabei ist, dass dies den Mobilisierungsstrategien der Rechtspopulisten in die Hände spielt. Insofern scheint mir die These einiger polnischer Soziologen wie Maciej Gdula nicht so abwegig, dass diese Proteste gar nicht unbedingt dazu führen, die Akzeptanz dieser Regierung zu senken, sondern sie sogar steigern. Die PiS-Regierung sitzt fest im Sattel. So erfolgreich die genannten Protestbewegungen auch für die Mobilisierung ihrer jeweiligen Klientel gewesen sind, sie haben noch kein Mittel gefunden, um die gesamtgesellschaftliche Spaltung zu überwinden. Dies scheint mir die Herausforderung zu sein, vor der diese Bewegungen jetzt stehen.
Wie sehen Sie die nahe Zukunft in Polen: Wird man zu einer themenübergreifenden Bewegung finden?
Peters: Prognosen sind immer schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen. Ich glaube, dass die anlassorientierte Protestbewegung erst einmal nicht abebben wird. Die weiterhin geplante Verschärfung des Abtreibungsrechts, eventuelle Änderungen des Wahlrechts, die Neuzuschnitte von Wahlkreisen einschließen und am Kern des demokratischen Selbstverständnisses rühren, oder auch kompromissloses Vorgehen der Regierung in konkreten Einzelfragen, wie im Falle der Abholzung des Urwalds von Białowieża, werden den Polen auch weiterhin Anlässe bieten, auf die Straße zu gehen.
Wie die Chancen stehen, dass darüber hinaus so etwas wie ein übergreifendes, sinnstiftendes Narrativ entsteht, ein alternativer Entwurf einer modernen polnischen Gesellschaft, worum es ja eigentlich geht, da vermag ich zum jetzigen Zeitpunkt keine Prognose abzugeben.
Dr. Florian Peters (Berlin) ist seit September 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte, Forschungsabteilung Berlin. Dort forscht er zur Erinnerungskultur und Transformationsgeschichte in Polen, insbesondere zum Kampf zwischen Solidarność und Sozialismus.
Über die Veranstaltungsreihe
Im „Foyer Forschung“ bringen der Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ und das Kulturwissenschaftliche Kolleg Konstanz öffentlich brisante Wissenschaftsthemen in das Foyer der Spiegelhalle. (In Kooperation mit dem Theater Konstanz)
Veranstaltungsbericht
„Autorität und Widerstand. Von Bürgerprotesten und ihrer (Ohn)Macht“
Januar 2018
Weitere Termine
Digitale Gesellschaft
Juni 2018
Populismus – gefühlte Demokratie?
April 2017
Tabus – unausgesprochen stark
November 2016
Abschiebung. Bewegt Menschen
April 2016