Kulturalisierung: Zur Konjunktur des Kulturellen in Gesellschaftsdiagnosen
Rahmenthema des Kulturwissenschaftlichen Kolleg im akademischen Jahr 2010/11
„Kultur“ ist zu einer respektierten Kategorie der Gesellschaftsanalyse avanciert. Trotz mancher Kritik ist ein „post“-cultural turn nicht absehbar. Im Gegenteil finden kulturalisierte Deutungen zunehmende Verbreitung, von ökonomischen über außen- und innenpolitische bis hin zu biologischen Diskursen.
Fragestellungen, die Gesellschaft als kulturelles Phänomen ausdeuten, werden zunehmend mit Ressourcen ausgestattet. Der Konstanzer Exzellenzcluster ist selbst ein gutes Beispiel dafür, dass der Bezug auf Kultur mittlerweile als hoch institutionalisierte und legitimierte Form der Gesellschaftsanalyse gelten kann. Vor diesem Hintergrund soll im Rahmen des vorgeschlagenen Schwerpunktthemas selbstreflexiv die Konjunktur des Kulturellen diskutiert werden.
Seit dem viel beschworenen cultural turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften haben sich kulturalistische Deutungsmuster in einer Art und Weise etabliert, dass sie mittlerweile nicht nur vielfach Diskurshoheit innehaben, sondern darüber hinaus auch in solchen Untersuchungsfeldern Anwendung finden, in denen sie bisher keine oder nur eine marginale Rolle gespielt haben, wie etwa in Bezug auf Fragen wirtschaftlicher Integration und Entwicklung auf der Ebene von Unternehmen („Unternehmenskultur“ bzw. „-identität“), von Branchen („Risikokultur“) oder von ganzen Volkswirtschaften („asiatische Werte“, nationale „Anlegerkulturen“) über die kulturalistische Deutung von internationalen Konflikten, Migrationsphänemonen und transnationalem Terrorismus (Stichwort: „clash of civilizations“) bis hin zur Deutung der „Kulturspezifika“ von Tiergesellschaften.
Dass der Bezug auf Kultur mittlerweile als hoch institutionalisierte und legitimierte Form der Gesellschaftsanalyse gelten kann, bedeutet indes nicht, dass dies unproblematisch wäre, weder in analytischer noch in soziopolitischer Hinsicht. Erstens können kulturorientierte Analysen in einseitig kulturalistische umschlagen, die wichtige alternative, zusätzliche oder komplementäre Analyseebenen ausblenden. Dies geht oftmals damit einher, dass die ehemalige Residualkategorie, als die „Kultur“ im positivistischen Wissenschaftsverständnis häufig fungierte, zur alleinigen unabhängigen Variable überhöht wird. Zweitens ist der Bezug auf Kultur besonders leicht politisch instrumentalisierbar und manipulierbar, weil „Kultur“ oftmals in primordiale Codes wie etwa Ethnie, Geschlecht, Alter etc. gekleidet wird. Drittens bleiben kulturalistische Diskurse grundsätzlich angreifbar, solange sie die von ihnen als einseitig kritisierten institutionellen Zugänge ebenso einseitig zurückweisen.
Es stellt sich somit die – auch forschungspolitisch wichtige – Frage, auf welche Weise sich „Kultur“ als Analysekategorie langfristig beibehalten und differenzieren lässt. Dies verlangt nicht nur nach einer längst überfälligen Bestandsaufnahme kulturalisierter Diskurse, sondern erfordert auch besondere Aufmerksamkeit für die Ränder solcher Diskurse.
Entsprechend ergibt sich eine offene Liste möglicher Forschungsfragen:
- Auf welchen Analyseebenen lassen sich kulturalisierte Diskurse beobachten (Wirtschaft, Unternehmen, internationale Beziehungen, Einwanderung, Terrorismus etc.), und wovon grenzen sie sich jeweils ab?
- Welche Charakteristika haben kulturalisierte Semantiken ausgebildet (etwa Bezüge auf „Diskurse“, „Narrative“ etc.), und wie werden diese in bestehende Analysesysteme integriert?
- Wie konstituieren sich kulturalistische Diskurse in Bezug auf die Kritiken, die sie an anderen Diskursen üben?
- Welche Anschlussdiskurse produziert der cultural turn in gegenwärtigen Gesellschaftsdiagnosen, etwa in Bezug auf die seit kurzem (wieder) eingeforderte Unterscheidung zwischen dem Kulturellen und dem Religiösen oder auf die zunehmend konstatierte epistemologische Gefährdung des Wahrheits- und Realitätsbegriffs (etwa in Diskursen zum Klimawandel, Kreationismus, etc.)?
- Welche Objekte/Phänomene erweisen sich gegenüber kulturalistischen Deutungsansätzen als widerständig und bis zu welchem Grad tun sie es?
- Von welchen Seiten und auf welchen Foren wird Kritik an kulturalisierten Analysediskursen geübt (etwa an Huntington, an Zivilisationstheorien, an identity politics, als anti-antiessentialism etc.)?
Das Rahmenthema „Kulturalisierung“ versteht sich als ein Beitrag zur selbstreflexiven Verständigung des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ über seine Grundkategorien. Es steht einerseits zur Diskussion, in welchem Maße und durch welche Kanäle der kulturalistische Ansatz auch auf Fragen etwa nach den ökonomischen, soziopolitischen, psychologischen oder anthropologischen Grundlagen von Integration ausstrahlt. Im Rahmen welcher nicht-kulturalistischen Diskurse, so ließe sich beispielsweise fragen, ist „Kultur“ neu eingeführt worden, um bestehende Erklärungsansätze (auch forschungspolitisch) abzusichern (etwa, wenn Integration als Investmentstrategie verstanden wird, wie in Humankapitaltheorien oder der Soziobiologie)? Andererseits wirkt die transdisziplinäre Ausbreitung kulturalisierter Diskurse in den Geistes- und Sozialwissenschaften auf die disziplinären Diskurse zurück, aus denen Kultur als „traveling concept“ (Mieke Bal) entlehnt wurde. Eine weitere grundsätzliche Frage lautet daher, ob und inwieweit sich im Zuge der Ausbreitung der Kategorie „Kultur“ ihre Konzeptualisierung und ihre Gebrauchsweisen in den klassisch kulturorientierten Disziplinen wie Anthropologie, Literaturwissenschaft und Teilen der Geschichts- und Sozialwissenschaften verschiebt.